Katharina Burges „Stücke meiner Nächte“
Wer Katharina Burges aus ihren Konzerten kennt, war meist von ihrem stimmlichen Umfang und ihrer Interpretationsweise beeindruckt. Selten deckt eine Sängerin die Bandbreite von Klassik, Pop, Soul und Jazz so ab, wie die im Brandenburgischen lebende Künstlerin, die mitunter schon als „weiße Mahalia Jackson“ bezeichnet wurde, in Theater-Inszenierungen „große Oper“ singt und Barmusik genauso intensiv zelebriert, wie Auftritte auf geräumigen Bühnen. Kritiker*innen siedeln sie zwischen Nina Hagen, Amy Whinehouse, Janis Joplin, Tori Amos und Maria Callas an. In ihren Kompositionen drückt sie sich ähnlich vielfältig aus und deckt ein breites stilistisches Spektrum ab. Nicht umsonst war das Album „Jenseits schillernder Welten“ ihres Trios „Burges Gränzer Schade“ im Jahr 2019 für den „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ nominiert. Allerdings: Auf dem vorliegenden Album „Stücke meiner Nächte“ singt Katharina Burges keinen einzigen Ton, sondern findet eine andere, mindestens genauso interessante Interpretationsart: eine kammerspielartige Solo-Unterhaltung mit eigens dafür komponiertem Sound. Zwar setzt sich die Künstlerin auch ans Klavier und greift zur Violine, bleibt jedoch überwiegend bei elektronischen musikalischen und Effekt-Komponenten, die sich zwischen Gothic Wave, Jazz und Fantasy-Elementen bewegen. Als sprachliche Protagonistin erleben wir sie hierbei intim, zerbrechlich, süffisant, zerstörerisch.
Dem Album „Stücke meiner Nächte“ liegt das fast 200 Gedichte umfassenden Buch „Und traumlos sind mir Schlaf und Wachen (Gedichte und Bilder)“ von Ulla Burges zugrunde, aus denen Katharina 11 Werke und zusätzlich einen eigenen Text vertonte. Es ist die zweite Zusammenarbeit mit ihrer Mutter. Im Jahr 2004 hat sie schon die „Knochigunde“ kompositorisch verewigt, ein (nicht nur) Kindermärchen, welches als Buch und CD mit Texten und gemalten Bildern von Ulla Burges erschienen ist.
Auf „Stücke meiner Nächte“ wird, beginnend mit dem Titel „Schwarz“, der erste Ankerpunkt gesetzt, von dem aus die Reise ins Eingemachte geht, in eine Gefühls- und Gedankenwelt, die manch auch erschreckendes Innehalten bewirkt, aber die doch konsequent und liebevoll zu Ende gegangen werden darf. „Literatur kennt nur zwei Themen. Die Liebe und den Tod. Alles andere ist Mumpitz.“ äußerte sich einst Kritiker Marcel Reich-Ranicki und könnte damit deutlich den Inhalt des vorliegenden Albums beschrieben haben. Denn auf diese Themen lässt sich bei genauer Betrachtungsweise nahezu alles menschliche Denken, Fühlen und Handeln reduzieren. Seien es Verschlossenheit, Verletzungen, Angstschleifen, Trunksucht, Überagieren – immer spiegelt sich die Furcht vor dem Tod und / oder vor ihm der Liebe nicht oder ihr nur sehr schmerzhaft begegnet zu sein, darin wider.
Interessanterweise nähern sich Mutter und Tochter den Stücken aus ganz verschiedenen Richtungen. Liegen den Texten der Verfasserin zunächst eher konkrete physiologische Abläufe, Beobachtungen und Begegnungen zugrunde, tastet sich die Komponistin und Interpretin von einer sehr emotionalen, verletzlichen Seite und manchmal auch aus komplett anderer Richtung heran. Das Stück „Schattenzeit“ beispielsweise beschreibt Ulla Burges, die als Psychotherapeutin tätig ist, als „die poetische Zusammenfassung eines epileptischen Anfalls“, so wie er ihr von einem Patienten beschrieben worden ist: „Wenn die Aura kommt und du merkst, dass es gleich wieder los geht, ist das mit optischen, haptischen und akustischen Eindrücken oder Halluzinationen verbunden. Dann erst kommt der eigentliche Anfall. Danach wachst du auf, weißt nicht, was los ist, hast dir auf deine Zunge gebissen und in die Hose gemacht. Das wird im Gedicht natürlich nicht so brutal-pathologisch gesagt…“ Ihre Tochter, die nichts von der Beschreibung des rein biologischen Phänomens wusste, sah in dem Text eher alptraumgeplagte Nächte, Schlafwandel, (Ab-)Stürze und abruptes Aufwachen. „Ja, es ist deine Seele, die dir die Nächte verdirbt“. Extrempunkte setzen beide Betrachtungsweisen. Sowohl der anfallsleidende als auch der in Träumen dem Schrecklichen begegnende Mensch fühlt sich, wenn die Klarheit des Verstandes langsam wieder einsetzt, schambehaftet und hofft, dass niemand etwas mitbekommen hat („verwischen die verräterische Spur“). An dieser Stelle zeigt sich, wie ähnlich Empfindungen bei unterschiedlichem Herangehen sein können bzw. wie unterschiedlich die Interpretation bei ein und demselben Text sein kann.
Auch „Pietätlos“ ist ursprünglich eine biologische Geschichte, wie Ulla Burges beschreibt: „Ich habe mit Verdruss zur Kenntnis genommen, wenn in alten Papieren solche Tierchen waren… Erstmals ist es mir aufgefallen, als ich nach vielen Jahren mein in der Schule kunstvoll und sehr umfangreich gestaltetes Herbarium betrachtete. Die Blätter waren gelb, und da war Viehzeug drin.. Das Gleiche bei alten Büchern und Briefschaften, die lange irgendwo lagerten: in einem alten Liebesbrief sind winzige Tierchen am Werk… Dort sind dann keine getrockneten Pflanzen zum Fressen vorhanden, da wird meine Sehnsucht, meine Liebe, mein Warten von diesen lieblichen Tierlein angegangen. Ein ziemlich naturalistischer Ursprung eigentlich…“ Die Viecher sind als „winzige Nachtgestalten“ bezeichnet und das Werk mit der abschließenden Textzeile „jetzt kommt Geschmack mir“ beendet. „Nein, ich habe sie nicht gefressen, aber man kann sie zwischen den Fingern zerreiben. Ich musste noch etwas Ekliges in dieses Bild bauen.“ Auch diesen Text sieht ihre Tochter anders: „Die Zeilen sind für mich surreal. Man sitzt etwas abgewrackt irgendwo und denkt über das Leben und dessen Nichtigkeit nach. Man wartet und weiß nicht worauf. ‚Jetzt kommt Geschmack mir‘ steht für mich metaphorisch fürs Aufwachen… Nun kann ich wieder aufstehen und weitergehen…“
Der kompositorische Anteil des Albums schafft spezielle Erlebniswelten. Jazz- und balladeske Elemente tauchen auf, mitunter peitschende elektronische Effekte wechseln sich mit stillen Augenblicken ab. Der Einsatz eines Duduks findet genauso statt, wie die durch die Rhythmik und Attitüde geschaffenen, psychedelisch anmutenden Momente in „Geborgte Zeit“. Ulla Burges: „Ich kann mich gut in die Gedanken- und Gefühlswelt Anderer hineinversetzen. Deswegen denke ich, ganz gut in meinem beruflichen Tun zu sein. Ich höre immer wieder von Patienten ‚ich möchte gerne, aber ich kann nicht…‘ so etwas Depressives… ‚ich möchte etwas anfangen, aber es wird doch nichts…‘ Eine Veränderung des Denkens und Fühlens gelingt nur sehr mühsam und in kleinen Schritten. Das ist ein Versuch – wie in allen Gedichten -, nackte Tatsachen oder Zustandsbeschreibungen zu ‚ver-dichten‘, zu komprimieren und damit Emotionales oder emotionale Kurzschlüsse in Kreatives zu verwandeln. Dort aber spricht nicht zwangsläufig mein Ich, das ist jemand Anderes. Ich neige weniger zum Depressiven. Ich schreibe zwar gerne in der Ich-Perspektive, aber dieses ist kein persönlicher Text…“ Der Text zum einzigen instrumentalen Stück des Albums ist lediglich begleitend im Booklet abgedruckt: „Das Instrumentale war so dicht, dass der Text nicht mehr gepasst hat. Der kommt nun beim Lesen zur Geltung. Beides gehört zusammen, ich fand es schön so. Ich finde, dieser Text hat selbst so viel Kraft und Bedeutung, dass man ihn mit eigenen Bildern im Kopf lesen kann, wenn man die Musik hört…“ Die Bilder entstehen zweifellos auch ohne die Lyrik und rhythmisch wie musikalisch können während des Hörens in Trance versetzende Tänze von Naturvölkern assoziiert werden. „Während der Depression befindet man sich in einer Schleife und es gelingt nicht, diesen Schritt nach außen zu gehen“ beschreibt Katharina Burges die Tatsache, dass Menschen in jenen Erlebens-Welten sehr gefangen sein können.
Tracks
1. Schwarz
2. Wandel
3. Lehrjahre
4. Geborgte Zeit
5. Egoismus
6. Schattenzeit
7. Vergänglich
8. Pietätlos
9. Ent-Deckung
10. Hazar Ertu
11. Und dennoch
12. Suche
Katharina Burges „Stücke meiner Nächte“
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