Gilbert O’Sullivan „Driven“

Unglaubliche fünfzig Jahre sind vergangen, seit Gilbert O’Sullivan mit „Alone Again (Naturally)“ sechs Wochen lang an der Spitze der US-Billboard-Charts stand. Es war der Song, der Amerika dazu veranlasste, sich Hals über Kopf in eine für unmöglich gehaltene Liebesaffäre mit dem aus Irland stammenden, aber höchst britischen Singer-/Songwriter zu stürzen, die bis heute andauert. Neil Diamond sagte einmal, er wünschte, er hätte ihn geschrieben, und nahm den Song kurzerhand in sein Live-Programm auf, so wie es im Laufe der Jahre noch viele andere Sänger taten – angefangen von Nina Simone über die Pet Shop Boys bis hin zu Elton John. Wie es sich für einen Künstler gehört, der häufig als „Songwriter der Songwriter“ bezeichnet wird, hat O’Sullivan bis heute drei Ivor-Novello-Awards erhalten. Und in Anbetracht der Tatsache, dass sein Gesamtwerk rund 300 Songs umfasst, ist es vielleicht nicht allzu verwunderlich, dass sich auch nachfolgende Generationen populärer Künstler – darunter Paul Weller, Squeeze und The Lemon Twigs – mit Stolz als Fans von Gilbert O’Sullivan bezeichnen. Zu seinen zahlreichen Bewunderern zählen auch Tim Burgess (The Charlatans), der ihn persönlich einlud, gleich zwei seiner legendären Listening-Partys auf Twitter zu moderieren und der verstorbene John Peel, der einst schrieb: „Wenn wir schon von den Charts leben müssen, dann lasst uns Gilbert O’Sullivan in ihnen haben“.

So verlockend es auch sein mag, sich ausschließlich auf die Meilensteine seines Erfolgs zu konzentrieren, so sei doch diese kleine Anekdote erlaubt, dass Gilbert O’Sullivans einzig wahrer Glücksort über die Jahrzehnte hinweg unverändert geblieben ist. Und so findet man O’Sullivan an einem Montagmorgen in seinem Haus in Jersey am Klavier sitzend, um genau dort weiterzumachen, wo er am Freitagnachmittag aufgehört hat – mit der nach eigener Aussage ‚Brill Building-Mentalität‘. Und wie schon die neunzehn davor, ist so auch sein zwanzigstes Studioalbum entstanden.

Man muss also nicht allzu tief graben, um herauszufinden, warum er sich für diesen Titel entschieden hat. Die dreizehn Songs auf „Driven“ offenbaren die außerordentlichen Fähigkeiten eines Songwriters, dessen Gespür, sich bislang unentdeckten Quellen tief hängender melodischer Früchte zu bedienen, größer und ausgeprägter ist denn je. Produziert von Andy Wright und mit einer Live-Band in den legendären RAK-Studios aufgenommen, zeugt das unerwartete Tempo, mit der die Songs entstanden, von der außergewöhnlichen Chemie zwischen O’Sullivan, Wright und einer Hausband bestehend aus Pat Murdoch (Beyonce, Simply Red, Chrissie Hynde), Rich Milner (Morcheeba, James Morrison) und Geoff Holdroyde (Take That, Big Linda), die bereits unmittelbar nach Beginn der Recordings deutlich spürbar war.

Es ist, als gäbe es eine chemische Reaktion in dem Moment, da sich die Ton-Nadel sich auf „Driven“ niedersenkt. Gilbert, der nach wie vor zurückhaltend ist, sich selbst als ‚richtigen‘ Pianisten zu bezeichnen, erklärt seinen Part auf dem Album-Opener „Love Casualty“ als „… so etwas wie ein Keith-Richards-Riff“ – und das, obwohl andere Ohren im Zusammenspiel zwischen O’Sullivan und Pat Murdochs geschmeidigen Gitarrenverzierungen vielleicht eher etwas von JJ Cale vernehmen mögen. Eine ähnliche Synergie entsteht auch in dem Song „Take Love“, bei dem Gilbert und die schottische Singer-/Songwriterin KT Tunstall als Gastsängerin ihre Lyrics in Form eines Duetts zum Besten geben. Unterlegt wird der Song von einem vor Energie fast knisternden R&B-Arrangement. „Wenn es sich um Sänger oder Sängerinnen handelt, die man wirklich bewundert“, sagt Gilbert, „ist es immer ein wenig nervenaufreibend, darauf zu warten, ob sie deinen Song so sehr mögen, dass sie ihn machen wollen. Aber wie man hören kann, hat sich KT voll und ganz auf den Geist der Aufnahme eingelassen.“

Im Falle des anderen Gasts und bekennenden Fans, Mick Hucknall, wurde das Risiko durch die Tatsache gemindert, dass sich die beiden bereits einige Jahre zuvor kennengelernt hatten, als Gilbert eine Show des Simply Red-Frontmanns in der Royal Albert Hall besuchte. Es ist das erhabene und zugleich gefühlvolle Timbre von Hucknall, das man auf „Let Bygones Be Bygones“ hören kann, einem Song, der ein zeitgemäßes Korrektiv für das zunehmend polarisierte Denken ist, das den vorherrschenden Diskurs im Zeitalter der sozialen Medien prägt.

Wie in so vielen seiner Songs ist es eher ein sanfter Aufruf an die Menschlichkeit, eher ein gutes Zureden als die predigende Anklage, die Gilbert O’Sullivan als Mittel zum Zweck bevorzugt. Diese Vorgehensweise geht bis zu seinem allerersten Hit „Nothing Rhymed“ zurück, so dass „Driven“ bei weitem nicht das einzige Album ist, dass sich dieses Prinzips bedient. Tatsächlich ist dies ein Album, dessen Songs sich aus den unwiderruflichen Wahrheiten speisen, die die meisten von uns für sich definieren: das Bedürfnis nach Gemeinschaft und die Traurigkeit, die wir empfinden, wenn andere Menschen kein Mitgefühl aufbringen können.

O’Sullivan war noch nie ein didaktischer Songschreiber, und manchmal merkt man erst beim zweiten oder dritten Hören, dass eine oberflächlich betrachtet romantische Ballade auf einer tieferen Ebene, noch eine weitere Botschaft in sich trägt. Ein gutes Beispiel dafür ist „You and Me Babe“, in dem O’Sullivan die Dinge, die unser Leben sinnvoll machen, wie beispielsweise von Menschen umgeben zu sein, die man liebt und die einen lieben, den Turbulenzen in der Welt gegenüberstellt. „Es ist das erste Mal für mich, dass ich das Wort ‚babe‘ in einem meiner Songs verwende“, erklärt O’Sullivan (dessen Vorliebe für die englische Umgangssprache einmal dazu führte, dass er Andy Williams die Bedeutung des Wortes ‚bagsy‘ erklären musste, als Williams den Songs „We Will“ coverte.) „Ich war ein großer Dylan-Fan, der es oft benutzte, also dachte ich wohl irgendwie, es gehöre ihm. Aber dieser Song verlangte es geradezu. Die Schlüsselzeile ist vermutlich die, in der es darum geht, ‚für das Richtige im Leben einzustehen‘ – außerdem gibt es einen subtilen Hinweis auf den Klimawandel. Ich versuche, darüber zu sprechen, wie wir heute sind, ohne dabei predigen zu wollen. Gott bewahre. Ich möchte niemals Namen nennen. Ich bevorzuge Songs wie Bobby Hebb’s ‚Sunny‘, der über Präsident Kennedy war, aber eben auf subtile Art und Weise.“

„Back and Forth“ kommt als eine Art düsteres Wiegenlied daher. Gilbert wurde von einem Zeitungsartikel dazu inspiriert, den er ausgeschnitten und neben dem Klavier an die Wand gepinnt hat, wo alle möglichen Inspirationen und Songtitel landen. „In dem Artikel ging es um ein junges schwarzes Paar in einem Range Rover im Westen Londons, das von der Polizei angehalten und aufgrund ihrer Hautfarbe überprüft wurde. Das ging mir sehr nahe.“ In „Hey Man“ geht es um ein ähnlich ergreifendes Thema, zeigt es doch die unterschiedlichen Momentaufnahmen entscheidender Augenblicke im Leben von vier verschiedenen Personen – angefangen vom Krebspatienten, der auf seine Testergebnisse wartet, bis zum Autodieb, der kurz davor steht, jemanden unglücklich zu machen bzw. im Zweifelsfall sich selbst, wenn er erwischt wird. Allen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass nach diesen besonderen Momenten nichts wieder so sein wird wie vorher.

Inmitten der Ungewissheit der letzten zwei Jahre ertappte sich, wie so viele von uns, auch Gilbert häufig dabei, über einfachere Zeiten zu sinnieren. In „Blue Anchor Bay“ schwelgt er in seiner Teenagerzeit in Swindon und den regelmäßigen Schulausflügen, die ihn und seine Freunde eben an jenen Strand von Somerset führten, der im Titel des Songs verewigt ist. Entstanden ist ein Song im Gewand eines sepiafarben anmutenden Jazzstandards, den man so wohl eher auf einem Album von Leon Redbone oder Mose Allison erwarten würde. „Es ist ungewöhnlich für mich, über eine reale Erfahrung auf diese Weise zu reflektieren. Aber auf einmal war die Erinnerung an diese Reise sehr präsent. Diese verhältnismäßig unschuldige Zeit: Jungen und Mädchen auf der Rückbank eines Busses – einfach so. Ein bisschen Alkohol. Herumalbern. Ich habe sogar einige meiner alten Schulfreunde kontaktiert, um mich zu vergewissern, dass sie damit einverstanden waren. Nicht, dass man sie in dem Song wiedererkennen würde.“

Auf „With Body and Mind“ wird uns auf eindrückliche Weise eine Analyse der Dinge vorgelegt, die einen Segen in unserem Leben darstellen. O’Sullivan bedient sich hierbei einer Art inneren Dialogs mit dem Lebensgefährten der Protagonistin. Auf die Frage hin, ob der Song von seiner 42-jährigen Frau Aase Brekke inspiriert wurde, lächelt O’Sullivan: „Sie fragt mich oft: ‚Wie viele deiner Songs wurden über mich geschrieben?‘ Ich antworte: ‚Nun, es gibt natürlich einige, aber man muss schon sehr tief graben, um sie zu finden!‘“

„Let Me Know“ ist ein weiterer bemerkenswerter Song auf „Driven“ – Gilbert erinnert sich hier an das erste Jahrzehnt seiner Karriere, in dem er sich gegen ernsthafte Beziehungen sträubte, weil er befürchtete, dass sich das auf sein Songwriting auswirken könnte. „Aber mir gefiel irgendwie auch der Gedanke, einen Song zu haben, in dem der Mann dem Mädchen sagt: ‚Wenn du nicht mehr mit dem Herzen dabei bist, mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme schon klar.‘“

Im Grunde ist „Driven“ ein Album, das ein nuanciertes Porträt eines Mannes bietet, der seine eigenen Werte und sein Selbstverständnis in einer zunehmend chaotischen Welt bekräftigt. Gilbert O’Sullivan war wohl nie ein konventioneller Songwriter, sondern entspricht vielleicht eher der Beschreibung eines britischen Chansonniers, der übrigens von keinem Geringeren als Lenny Kaye – Rockwissenschaftler und Gitarrist der Patti Smith Group – für seine „kunstvoll konstruierten, lyrisch originellen Songs mit einem feinen Sinn für filigrane Details“ gelobt wird. Wie bei Paul McCartney und dem jungen Harry Nilsson – beides Songwriter, für die er eine große Vorliebe hegt – reicht Gilbert O’Sullivans Spannweite über die Parameter des Rock’n’Roll hinaus.

Kommen wir zu den vielleicht emotionalsten Stücken auf „Driven“. Da sind die entwaffnend einfachen Lebenslektionen, die in „Don’t Get Under Each Other’s Skin“ vermittelt werden, angetrieben von einer Art Ad-hoc-Chor, der an den Stepney and Pinner-Chor in Nilssons Song „I’d Rather Be Dead“ erinnert. „If Only Love Had Ears“ wird von einem äußerst zarten Streicherarrangement umrahmt und ist wohl einer der schönsten Songs, die aus Gilbert O’Sullivans Feder stammen. „Es gibt einige Titel, die in Bereiche eintauchen, mit denen man sich bislang noch nicht auseinandergesetzt hat. Wir alle kennen Situationen, in denen Beziehungen scheitern oder Menschen Affären haben. Ich wollte an die Konvention aus den 1940er Jahren anknüpfen, auf die sich Paul McCartney mit seinem Song ‚Here There and Everywhere‘ bezog, wo es vor dem Hauptteil des Songs eine kleine lyrische Einleitung gibt.“

Das vielleicht auffälligste Paradoxon, das sich bei einem Gespräch mit Gilbert O’Sullivan herauskristallisiert, ist seine verhältnismäßig große Zurückhaltung, wenn es darum geht, seine eigenen Lieder zu analysieren. Und dennoch ist seine Faszination unergründlich, wenn es um die Mechanismen des Songwritings selbst geht. Kehren wir zum Ausgangspunkt und ins Jahr 1972 zurück. O’Sullivan vertraut dem NME-Journalisten Tony Norman an, dass ihm sicher bald die Songs ausgehen werden. Und wenn es so weit ist, wird er sich „etwas anderem zuwenden müssen als der Musik“. Fünfzig Jahre später stehen wir nun hier an diesem Punkt. „In gewisser Weise“, sagt er, „ist es einfacher geworden, weil man eine klarere Vorstellung davon hat, wer man ist. Und obwohl es schön ist, Hits zu haben, ist es doch die Freude am Songschreiben selbst, um die es geht. Etwas in einem Raum zu erschaffen, wo vorher nichts war. Etwas, das unabhängig von dir existiert. Vielleicht ist es sogar noch da, wenn du schon lange weg bist. Es ist für mich immer noch so erstaunlich wie beim ersten Mal.“

Tracks
1 Love Casualty
2 Blue Anchor Bay
3 Let Bygones Be Bygones (Featuring Mick Hucknall)
4 Body And Mind
5 What Are You Waiting For
6 Let Me Know
7 Take Love (Featuring KT Tunstall)
8 Back And Forth
9 If Only Love Had Ears
10 You Can’t Say I Didn’t Try
11 You And Me Babe
12 Hey Man
13 Don’t Get Under Each Other’s Skin

Gilbert O’Sullivan „Driven“
BMG