Aventura Quartett „Soul & Mind“

Trübsinn beschleicht nunmehr auch die optimistischsten Gemüter unter den Musikkunstschaffenden. Noch sechs Monate zuvor gab es berechtigten Grund zur Hoffnung auf baldige Rückkehr zum Konzertbetrieb und das Ende von Abstandsgeboten. Deren Fortbestand reißt jedoch spätestens ein halbes Jahr später tiefe Seelen-Gräben. Vor allem bei Jazzern, die ihrem Selbstverständnis nach ausgesprochene Team-Player sind. Die unmittelbare Ensemble-Kommunikation auf der Bühne, oder aber mindestens im gemeinsam bezogenen (Übungs-) Raum, ist in der freien Musik Sakrileg und Klangwerdungsnotwendigkeit von Momentaufnahmen zugleich.

Trotz sorgsam geschaffener, wohnlicher Idylle am Grenzzipfel zwischen den Niederlanden und Deutschland, nahe Aachen, überkommt auch den Saxophonisten, Komponisten und Bandleader Werner Hüsgen ein „Depri“. Längst verschobene Konzerte seines europaweit verehrten Band-Projekts P.U.L.S.E. müssen entweder erneut hintenangesetzt, oder nunmehr abgesagt werden, die notwendigen Mittel zum Investieren in weitere Projekte brechen weg. Perspektivlosigkeit beherrscht in dieser Zeit auch seinen Musikeralltag.

Material für ein Akustik-Quartett-Album liegt derweil bereits in der Schublade. Aber wohin damit? Es gibt keine Band, keine Auftrittsmöglichkeiten. Der Großgewachsene mit dem neugierig-offenen Saxophon-Ansatz richtet seinen Fokus schließlich auf die mühsame Selbstbefreiung aus der unfreiwilligen Statik. Plötzlich geht alles ganz schnell, Förderanträge werden gestellt und bewilligt, neue Ideen wollen notiert werden und drei Instrumentalisten, deren Bedürfnisse nach musikalischem Austausch so groß sind wie Hüsgens eigene, finden sich sukzessive ein. Es sind teils langjährige Weggefährten, aber auch neue Freunde, die dem Quartett ein Gesicht geben. Bekanntschaft untereinander hatte keiner von ihnen vor der ersten Probe geschlossen. Während des ersten Materialdurchlaufs stimmt die Chemie sofort, ein konstruktives Band-Empfinden erfüllt den Übungsraum instantan.

Von diesem erbaulichen Gefühl getragen, beschließt Hüsgen, seine neuen Kompositionen noch vor dem Sommer 2021 mit dem jüngst geborenen Quartett aufzunehmen. Der Trübsinn nimmt Reißaus, das beginnende, neue Abenteuer gibt der Viererbande ihren Namen: Aventura Quartett. Sieben Stücke werden zwei Tage lang in Bonn aufgenommen, die keineswegs wie Ventile für Depression, Resignation oder Verdruss klingen. Trotzdem sind sie dem menschlichsten aller Mysterien auf der Spur: der lieben Seele. Die Musik von „Soul & Mind“ will die Seele weder ersetzen noch jagen. Vielmehr bietet sie ihr reichlich Raum zum vielfältig-gestalterischen Ausdruck.

Die plakative Farbenexplosion der „Soul & Mind“-Hülle spiegelt die Entstehungsgeschichte des Albums: Aus Trübsinn, aus Ängsten entsteht etwas Neues, Buntes, etwas Auf- und Anregendes. Das wesentlichste Merkmal der Platte ist jedoch das Huldigen des Prinzips der Gleichzeitigkeit – ein Wesenszug des Jazz, dem sich keine andere Musikform dergestalt vielschichtig ermächtigen kann. Beispiel: „Stille“. Das Stück beginnt mit – pardon – delikatem, solistischem Schwadronieren. Während dessen „Soul & Mind“-Brüder und -Schwestern in der Ruhe an die Hand nehmen und in erbauliche Dialoge führen, beginnt „Stille“ mit einem „Bang“. Paradoxerweise? Logischerweise! Das „Mind“, sprich der Geist, lässt sich schlussendlich erstaunlicherweise eher zum persönlichen Entdecken anregen, wenn er mit Widersprüchen konfrontiert wird.

Gleichwohl ist „Soul & Mind“ bei weitem nicht nur ein intellektuelles Vergnügen. Die Musik baut „just in time“ eine Brücke zwischen den Emotionen ihrer ausführenden Kräfte und ihrer Empfänger. Dabei geht’s nicht um das Vorgeben von Stimmungen. Auch nicht in der geradezu lautmalerisch betitelten, anfänglich Bossa-Nova-getakteten Ballade „Wenn der Sommer wird zum Herbst“, der ständige Struktur-Veränderungen innewohnen. Das fanfarenartige Saxophon-Thema am Anfang des Titelstücks, das ins Album führt, geht ins typisch-türöffnende, hochmelodische Harmonieverständnis Hüsgens über. Die Band nimmt derweil formengebende, groove-gestaltende, spannungssorgende Aktivposten ein. Werner Lauscher bildet mit berührendem Sound und überaus „bassigem“ Spiel einen Ruhepol, der seinen drei Mitmusikern als solides Fundament dient. Beständig das Pulsmuster der jeweiligen Komposition im Blick, trommelt Simon Busch mit derselben Intensität sowohl filigran als auch hochenergetisch. Dabei geht er eine geradezu magische Verbindung mit dem Pianisten Sebastian Scobel ein. Gemeinsam halten sie selbst im Kontext vertracktester, rhythmischer Verschiebungen den Kontakt zueinander und zum Ausgangsmaterial. Scobel und Hüsgen setzen dem feinen, vitalen, musikalischen Treiben zu guter Letzt wohltönende Melodien-Krönchen auf.

„Soul & Mind“ will keine Kunstmusik um des Kunstmusikwillens sein. Jeder kann sich in ihr wiederfinden. Der Fußballer darf sie ihrer juvenilen Lebendigkeit wegen als Tanzmusik während des Dribbelns nutzen. Der Philosoph hört in ihr möglicherweise zur Ruhe findenden, seelenwärmenden Tiefgang. Das Leben darf sich, so es denn eine Gestalt annehmen könnte, in all seiner lustvollen, berauschenden, überraschenden, dem steten Wandel unterliegenden Simultanität liebevoll verstanden fühlen. Wer Werner Hüsgen kennt, ahnt, dass derlei Wortgewalt bei ihm auf konsternierte Freude stößt. Sein Musikerselbstverständnis gebietet ihm zuvorderst Demut vor der Musik. Auch davon erzählt „Soul & Mind“.

Tracks
Soul & Mind
Capetown Symphony
Eleven Steps To Heaven
Stille
Larry
Wenn der Sommer wird zum Herbst
Pasear en el Malecon

Aventura Quartett „Soul & Mind“
Luxaries Records