Steve Vai „Inviolate“

Im Laufe seiner mehr als 40-jährigen Karriere hat Steve Vai regelmäßig das scheinbar Unmögliche in etwas sehr, sehr Mögliches verwandelt… was im Grunde ganz schön unverschämt ist. Von seinen Tagen als Frank Zappa „Stunt-Gitarrist“ bis hin zu seinen neueren, expansiven und forschenden Soloarbeiten hat Vai immer wieder die Vorstellungen von traditionellem Gitarrenspiel und Komposition in Frage gestellt – und bei mehr als einer Gelegenheit sogar selbst das Instrument neu erfunden.

Was, wie er zugibt, nicht unbedingt seine Absicht ist. „Ich sitze nicht herum und sage: ‚Okay, was kann ich jetzt tun, um Grenzen zu überschreitet'“, erklärt Vai seine Herangehensweise an die Gitarre. „Was ich zu mir selbst sage, ist: ‚Okay, Vai – was wirst du jetzt tun, das dich interessieren wird, das dich faszinieren wird und das anders ist als alles, was du bisher gemacht hast?“

Die Antwort auf diese Frage kommt in Form von Vais neuestem und zehntem Soloalbum Inviolate, einem Werk mit neun Songs, das (sorry Steve) in der Tat die Grenzen der instrumentalen Gitarrenmusik verschiebt – dieses Mal hat Vai buchstäblich nicht nur eine neue Gitarre, sondern auch eine neue Gitarrentechnik erfunden.

Gleichzeitig präsentiert Inviolate seine fokussierteste, straffe und vielleicht belebendste Musik seit Jahren. „Es ist sehr ‚Vai‘, was auch immer das heißen mag“, sagt er und lacht dann. „Jemand anders kann vielleicht besser erklären, was das ist als ich. Aber es ist einfach sehr ehrliche Musik. Denn viele meiner Platten sind lang und es gibt viele Konzepte und Geschichten, mit denen ich herumspiele. Diese Platte hat nichts von alledem. Es handelt sich um neun ziemlich dichte, rein instrumentale Kompositionen, die ich festhalten und aufnehmen wollte, damit ich sie den Fans auch live präsentieren kann.“

Der Wunsch, diese Songs auf die Bühne zu bringen, stand im Mittelpunkt des Konzepts von Inviolate. Zu Beginn der Pandemie war Vai mit den Aufnahmen für ein ganz anderes Album beschäftigt, das hauptsächlich aus akustischen Solosongs mit Gesang bestand. Aber wie wir alle in den letzten Jahren gelernt haben, hat das Universum manchmal andere Pläne für uns.

In Vais Fall war er nicht nur mit einem, sondern gleich mit zwei ernsthaften Leiden außer Gefecht gesetzt – drei gerissene Sehnen in seiner rechten Schulter, die operiert werden mussten, und ein Anfall von schnellenden Finger (Triggerfinger) in seinem linken Daumen, was es ihm äußerst schwer machte, sein Instrument zu spielen. Als er den Genesungsprozess hinter sich gebracht hatte, begann sich die Welt wieder zu öffnen und er blickte – ziemlich aufgeregt – auf eine Liste von mehr als 200 Tourdaten. Und so wurde das Akustik-Album auf Eis gelegt und das deutlich mehr für die Bühne gemachte Inviolate entstand. Und natürlich ist es einfach, sich vorzustellen, wie Vai und seine Band im Jahr 2022 zu den elektrisierenden Klängen auf die Bühne stürmen.

Um nur ein Beispiel zu nennen, könnte man den Track „Avalancha“ nennen, der regelrecht süchtig macht. Hier sorgen Schlagzeuger Jeremy Colson und sein langjähriger Kollege Billy Sheehan am Bass für Rhythmus-Attacken, während Vai mit langen, gebundenen Gitarrenlinien, die extrem süchtig machen, den Künstler in seiner geradlinigsten und zugänglichsten Form repräsentiert.

Um die äußersten Grenzen seiner Fähigkeiten und Kreativität auszuloten taucht er auf Inviolate in einigen Fällen tiefer und weiter ein als je zuvor. Das beste Beispiel dafür ist der hypnotische Opener des Albums, „Teeth of the Hydra“, eine gewundene, Latin-Fusion-angehauchte Komposition, die Vai mit einer einzigartigen Spezialgitarre schrieb und aufnahm, die er Hydra nannte.

Aber die Hydra als bloße Gitarre zu bezeichnen, wäre viel, viel zu kurz gegriffen. Die Hydra wurde in Zusammenarbeit mit den Designern der Firma Hoshino (Ibanez) gebaut und basiert auf einer „Steampunk-Motiv“-Idee von Vai. Sie ist ein Biest von einem Instrument – eine einteilige Kreatur mit zwei Köpfen und drei Hälsen, die unter anderem mit sieben- und 12-saitige Gitarren, einen viersaitigen Bass, Harfensaiten, halbfreie Hälse, Single-Coil-, Humbucking-, Piezo- und Sustainer-Tonabnehmer, schwebende und Hardtail-Tremolo-Brücken, Phasensplitter und vieles, vieles mehr gespickt ist.

„Es ist eine unglaublich gut gebaute Maschine“, sagt Vai. „Ich habe den Jungs bei Hoshino gesagt: ‚Alles, was ihr für konventionell haltet, macht das nicht. Das war eine Gelegenheit, brutale Kreativität auszuleben. Und sie sind darüber hinausgegangen.“

Genau wie Vai mit seiner Performance. Während des gesamten Stücks setzt er die gesamte Klangpalette der Hydra ein, um einen Gitarrenpart zu gestalten, der in seiner Ausdehnung und Ausdruckskraft geradezu lebendig klingt. „Das Interessante an dem Song und der Gitarre ist, dass alles zur gleichen Zeit entstanden ist“, sagt Vai. „Es war eine dieser ‚unantastbaren‘ Inspirationen – bumm!“

Ich wusste, dass ich mit der Hydra etwas schaffen musste, das wie ein echtes Musikstück klang“, fährt er fort. Es durfte nicht nur eine Neuheit sein. Denn wenn man wüsste, was meine Hände machen und wie ich meine linke Hand benutze, um Phrasierungen zu kreieren, die funktionieren, wenn ich keine Note greifen kann, weil meine rechte Hand woanders ist… mein Gott. Aber das fertige Stück musste für sich selbst stehen. Es durfte nicht so klingen, als würde ich einfach nur mit Sachen jonglieren.“

Während „Teeth of the Hydra“ die Grenzen dessen auslotet, was zwei Hände auf einem Instrument leisten können, verfolgt Vai bei einem anderen Stück auf Inviolate, „Knappsack“, einen stromlinienförmigeren Ansatz. Vai komponierte und nahm den Song nach seiner Schulteroperation auf, zu einer Zeit, als sein rechter Arm in einer Schlinge steckte (oder, wie sein Chirurg Dr. Knapp es nannte, einem „Knappsack“) und er daher nur seine linke Hand benutzen konnte, als er das Stück spielte. Schwierig? Sicher. Aber als er Anfang 2021 ein Video von seiner einhändigen Darbietung veröffentlichte, sagt er lachend, „habe ich bald darauf einige Clips von jungen Kindern gesehen, die das auch geschafft haben. Es ist wirklich faszinierend.“

Diese Kids werden wahrscheinlich vor einer größeren Herausforderung stehen, wenn sie versuchen würden „Candle Power“ einen weiteren neuen Track nach zu spielen. Für dieses Stück hat Vai nicht nur Parameter außerhalb seiner Komfortzone festgelegt (Gitarre im Strat-Stil, Clean-Sound, keine Whammy-Bar, kein Plektrum), sondern auch – eine völlig neue Gitarrentechnik entwickelt, die er „Joint Shifting“ nennt. Das Kernkonzept besteht darin, mehrere Saiten gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen zu biegen, was erfordert, dass nur das oberste Gelenk des Fingers unabhängig von allen anderen Fingern gebogen wird“, erklärt er. Er räumt zwar ein, dass das Biegen mehrerer Saiten an sich kein neues Konzept ist, aber „ich hatte noch nie gesehen, dass es so gemacht wurde, wie ich es mir vorstellte“, sagt er.

Die bereits von ihm Anfang 2021 aufgenommenen Songs, wurden nun von einer Band unterstützt, die aus Bassisten Bryan Beller, Philip Bynoe und Henrik Linder, sowie Keyboarder David Rosenthal bestand. Am Schlagzeug ist Zappa-Kollege Terry Bozzio und Vinnie Colaiuta zu hören.

Mit „Little Pretty“, einem dunkel getönten Fusion-Funk-Workout, der fast ausschließlich auf einer Gretsch-Hollowbody-Gitarre gespielt wird, tanzt Vai abermals aus der Reihe.

Was Vai zu diesem (zumindest für ihn) ungewöhnlichen Gitarren-Modell geführt hat, erklärt er so: „Sie hängt mit all den anderen Gitarren an der Wand, und ich habe sie immer nur angesehen und gedacht: ‚Eines Tages werde ich dich spielen…'“.

„Apollo in Color“, bei dem Vai seine hochfliegenden Läufe auf seiner Ibanez PIA Signature-Gitarre (das neu entworfene Modell ist übrigens das erste Mal auf einem Vai-Studioalbum zu hören) mit filigranen Klängen auf allen möglichen exotischen Saiteninstrumenten unterlegt. „Ich dachte: ‚Okay, was kann ich tun, um das Ding zu verschönern?'“ sagt Vai. „Also holte ich all diese kleinen akustischen Instrumente heraus, die ich im Laufe der Jahre gesammelt hatte, und sagte mir: ‚Ich werde jedes einzelne davon irgendwie verwenden.‘ “ Dazu gehörten ein Cavaquinho, eine Saz, eine Sitar, eine Oud und mehr. „Einige der Instrumente kenne ich nicht einmal beim Namen“, gibt Vai lachend zu.

Aber die vielleicht größte stilistische Abweichung für Vai ist der siebte Track des Albums, „Greenish Blues“, der, wie der Titel schon sagt, ein echter Blues Song ist. Oder, zumindest, Vais Version des Blues. „Ich war nie wirklich ein authentischer Blues-Spieler“, gibt er zu. Obwohl er hinzufügt: „Ich war nie wirklich ein authentischer Spieler. Man würde sich nicht an mich wenden, um den Blues oder Jazz oder Klassik oder Fusion oder sogar geradlinigen Rock zu hören, weißt du? Bei mir gibt es immer seltsame Sachen, und die sind immer ehr schrullig“.

Allerdings weist er auch darauf hin, dass: „eines der ersten Dinge, die ich auf der Gitarre gelernt habe, war die Blues Skala. Ich dachte, ich hätte den heiligen Gral entdeckt. Praktisch alles, was ich seither gespielt habe, ist von dieser Tonleiter abgeleitet. Wenn ich mich über den Gitarrenhals bewege, denke ich nicht an Lydisch oder Mixolydisch oder an Fingerpicking. Ich denke an ‚Blues mit veränderten Noten‘. In dieser Hinsicht ist wohl alles, was ich mache, meine eigenwillige Version des Blues – ‚Greenish Blues‘.“

Im Grunde geht es darum, seine eigene Stimme zu finden und dann den Mut und die Überzeugung zu haben, seinen musikalischen und kreativen Instinkten zu folgen, wohin auch immer sie einen führen mögen – etwas, das Vai bei seinem Spiel nie gescheut hat.

„Eines der großartigen Dinge an der Gitarre ist, dass man kein Virtuose sein muss, um seine kreative Vision auszudrücken“, sagt er. „Ich meine, Bob Dylan spielt die Gitarre perfekt für seinen Ausdruck. Das gilt auch für John McLaughlin. Man muss nur entscheiden, wie viel Technik man will oder braucht, um ans Ziel zu kommen. Ich selbst wollte und brauchte das alles. Wenn es um meine Musik geht, habe ich nicht das Gefühl, dass ich irgendetwas beweisen oder mich an etwas anpassen muss. Ich liebe es einfach, mir kreative Ideen auszudenken und sie dann mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln umzusetzen.“

Und genau das hat er mit Inviolate wieder einmal getan.“Eine unantastbare (Inviolate) Inspiration ist eine, die völlig rein zu dir kommt“, erklärt Vai. „Sie erscheint fast in ihrer Vollständigkeit, und man erkennt, dass sie für einen richtig ist. Da gibt es für dich keine Ausreden mehr. Du wirst nur noch die Erkenntnis haben und kannst dann deiner Kreativität freien Lauf lassen. Hoffentlich ist mir das mit dieser Platte gelungen.“

Tracks
1. Teeth of the Hydra
2. Zeus in Chains
3. Little Pretty
4. Candlepower
5. Apollo In Color
6. Avalancha
7. Greenish Blues
8. Knappsack
9. Sandman Cloud Mist

Steve Vai „Inviolate“
Mascot Label Group