Ron Carter Foursight Quartet "Stockholm Vol. 1"

roncarterBehutsam vibrieren die Saiten. Punktgenauer Ton, bedingungslos klar. Und leise. Die längsten Finger des Jazz tanzen scheinbar schwerelos auf dem Holzsteg entlang; sehnig, filigran und elegant. So wie Ron Carter klingt kein anderer. Sein Kontrabass fabriziert häufig einen knackigen Groove wie ein E-Bass, und doch ist es immer klar definierbar der Sound eines klassischen Instruments. Dann schwillt das Geräusch unter den Skorpion ähnlichen Händen unwiderstehlich an. Payton Crossley streichelt dazu dezent die Becken, und Jimmy Green, der „Neue“ am Tenorsaxofon, sowie Pianistin Renee Rosnes schieben den Chorus auf die fein gehäkelte Rhythmusdecke. „Bei uns weiß niemand, was wann genau passiert“, preist Carter das Alleinstellungsmerkmal des Foursight Quartets. „Gerade deshalb ist jedes Konzert eine echte Herausforderung. Wir spielen fast immer am Anfang 35 bis 40 Minuten am Stück. Keine Pausen, nur leichte Veränderungen, die den Beginn eines neuen Songs erkennen lassen. Wären wir eine klassische Formation, dann würde man das als Sinfonie mit fünf Sätzen bezeichnen. So etwas funktioniert nur mit dieser Band!“
Im vorliegenden Fall heißen die Sätze „Cominando“, eine knisternde Hardbop-Struktur, die den Geist der 1960-er Jahre innerhalb weniger Takte ins 21. Jahrhundert transportiert, „Joshua“, seine Reminiszenz an den alten Freund und Partner Miles Davis, dem er viele Jahre als Weichensteller in dessen Quintett zur Verfügung stand und mit subtilen Einschüben das Hochfliegende der anderen Solisten erdete und ordnete, das träumerische „Little Waltz“, das heitere „Seguaro“ sowie eine kurze Reprise von „Cominando“. Carter selbst sieht sich dabei als Monitor für die kreativen Energien, als sanfter, unscheinbarer Navigator, dessen Puls die Richtung vorgibt, der aber niemals die Fantasie, die Wucht des Momentums durch einen Ego-Anfall zerstören würde. Mal regungslos staunend, mal voller Enthusiasmus und auf jeden Fall bereitwillig ließ sich das Publikum im Stockholmer Jazzclub „Fasching“ am 17. November 2018 zu den Zielen führen, die der Gentleman am Bass mit Rosnes, Greene und Crossley ansteuerte. Mit dem Blues „Nearly“ erinnerte das Quartett an die verstorbene Pianistin Geri Allen, mit dem wuseligen „You And the Night And the Music“ an Chet Baker, den Antipoden von Miles Davis. Auch mit ihm hat Ron Carter gespielt. Die Frage müsste man anders stellen: Mit wem eigentlich nicht?
„Du darfst bei einer Liveaufnahme auf keinen Fall überdrehen“, warnt der Herr der flüsternden Töne, dessen Basssound auf inzwischen fast 3000 Aufnahmen zu hören ist, mit einem charmanten Lächeln. „Es ist, als müsste man ein Privatkonzert im Wohnzimmer geben. Oder wir wären ein Kammermusik-Ensemble, das die Power eines großen Orchesters entwickelt, ohne dabei ein bestimmtes Lautstärken-Level zu verlassen. In Stockholm ist uns das zweifelsohne gelungen. Ich liebe diese CD, wirklich!“ Hier spricht sowohl die Erkenntnis aus vielen Jahrzehnten in zahllosen Bands unterschiedlichster Ausrichtung wie auch die unverstellte Freude, dass es bei einem alten Haudegen wie ihm selbst im Herbst seiner beispiellosen Karriere immer noch eine Steigerung geben kann. Ron Carter spielte in den vornehmsten Häusern und in den wüstesten Jazzclubs. Der Mann, der den Kontrabass endgültig aus der Schmuddelecke des Hintergrundinstruments hervorzerrte, weiß, dass Jazz auch ein Ringen mit Umgebungsgeräuschen sein kann. Vor allem in Clubs. Klirrende Gläser in Reihe vier, ein Räusperer in Reihe eins, irgendwo hinten das Quietschen der Klotür – der verblüffend jung gebliebene 82-Jährige begegnet diesen Interventionen der Realität in die Tonkunst stets höchst gelassen. Auch im knallvollen „Fasching“. Wenn es hinten zu laut wird, spielt er vorne eben ein kleines bisschen leiser. Bis sich alles wieder wie von selber regelt.
Denn dieser hölzerne Korpus in der Mitte der Bühne führt wie kein anderer aus der Zunft ein Leben neben dem klassischen Walkingbass – ohne dabei das Walken zu vernachlässigen. Geduldig, überlegt und mit seiner ganzen natürlichen Autorität ordnen er und sein Besitzer die Dinge, stellen Zusammenhänge her und erklären mit wenigen, prägnanten Tönen den Lauf des Lebens. Carters eigene Soli entfernen sich von der haltlosen Expression. In der Reduktion liegt der Zauber des Abends. Keine Note zu viel, lieber die Pausen atmen lassen. Die Musik brummelt in den Köpfen weiter, selbst wenn er keine Töne mehr erzeugt und nur noch seine sehnigen Finger spielerisch in der Luft bewegt.
Alle Kraft schlummert direkt unter der dünnen Oberfläche. Es knistert unaufhörlich, ohne jemals richtig zu explodieren. Je länger sich „Stockholm Vol. 1“ im Player dreht, umso eindringlicher verströmt die CD das zeitlose Aroma des Cannonball Adderley-Liveklassikers „In New York“ oder von Stanley Turrentines legendärem „Up At Mintons“-Albums – allerdings mit wesentlich besserer Akustik. Keine Nostalgie, sondern die Renaissance des guten, des edlen, des feinen Geschmacks. Weil ein Bassist die Geschicke lenkt. „Viele meiner Kolleginnen und Kollegen konzentrieren sich immer noch auf ihre Soli. Ich konzentriere mich auf die Musik und auf diesen ganz speziellen Moment. Wenn ich ihn erreicht habe, dann freue ich mich jedes Mal wieder!“ Der Zenit als Dauerzustand. Reinhard Köchl
Tracks
1. Cominando
2. Joshua
3. Little waltz
4. Seguaro
5. Cominando – reprise
6. Nearly
7. You and the night and the music

Ron Carter Foursight Quartet „Stockholm Vol. 1“

n + Out Records