Verborgene Chronik 1914-1918
Über 100 Tagebuchautorinnen und -autoren schreiben – völig unzensiert – von spontanen und inszenierten Kundgebungen, von den wechselvollen, zwischen Nationalstolz, Angst und Trauer hin- und hergerissenen Stimmungen in der Heimat, von ersten militärischen Erfolgen und Niederlagen im Sommer bis zum Beginn des Stellungskrieges, wie er bereits ab November 1914 vor allem die Westfront für Jahre beherrschen sollte, vom Gasangriffen, Kriegsverbrechen, Langeweile, Versorgungsengpässen, Sorgen um die Liebsten, dem Leben in Kriegsgefangenschaft, von Festtagen im Ausnahmezustand, Sehnen nach Frieden, Revolution und Aufstand.
Dabei entsteht ein Chor von Stimmen einfacher Soldaten und Stabsoffizieren, Daheimgebliebenen, Müttern, Ehefrauen und Kindern, Sanitätern, Feldpastoren, Kriegsgefängenen, Witwen und Arbeitern in Munitionsfabriken, die nicht immer frei von Propaganda, politischen Lügen und Selbstzensur berichten. Wir sehen die Geschehnisse aus hren Augen. Nicht mehr und nicht weniger. Doch gerade diese Vielstimmigkeit verdichtet sich zu einer Wahrheit ganz im Sinne Alexander Kluges, die dem Buch als Motto vorangestellt ist: Es muss möglich sein, die Realität als die geschichtliche Fiktion, die sie ist, auch darzustellen.
Einer der Herausgeber wurde mit einer Ehrung ausgezeichnet: Die Bayerische Akademie der Schönen Künste hat Herbert Kapfer die Wilhelm-Hausenstein-Ehrung für Verdienste um kulturelle Vermittlung verliehen. 1914 von unten – Einblicke ins Alltags- und Gefühlsleben der Deutschen im Schicksalsjahr, wie es sie noch nie gab.
Fast hundert Jahre lang blieben sie in privaten Händen, unveröffentlicht, dann fanden sie den Weg ins Deutsche Tagebucharchiv. Jetzt sichteten Lisbeth Exner und Herbert Kapfer, unterstützt von den Mitarbeitern des Archivs, für diesen Band erstmals die dort lagernden ca. 240 Tagebücher aus der Zeit zwischen 1914 und 1918 und komponierten aus den dafür geeigneten die Verborgene Chronik, eine Art kollektives Tagebuch des Ersten Weltkriegs.
Die Verborgene Chronik 1914 erzählt – anhand privater Schicksale – von der komplizierten Vorgeschichte bis zur großen Euphorie bei Kriegsbeginn, von den frühen Siegen bis zur ersten Ernüchterung, als sich der Krieg im Westen in den Schützengräben um Somme und Marne und im Osten festfuhr.
Die Verborgene Chronik ist eine gewaltige Collage von Originalzeugnissen von Front- und Etappensoldaten, Rekruten, Arbeiterfrauen, Kindern, sorgenden Familienmitgliedern, Ärzten, Stabsoffizieren, Krankenschwestern, propagandistischen Pressemeldungen, Altoffizieren, Kriegswitwen, Militärgeistlichen, Kriegsgefangenen etc., etc., die ihre Hoffnungen, Eindrücke und Ängste unzensiert und völlig offen ihren Tagebüchern anvertrauten. In bisher ungekannter Authentizität und Direktheit zeigt sich in ihnen die verwirrende Vielfalt und Ungleichzeitigkeit der die Biografien der Schreiber existenziell erschütternden Eindrücke.
Von der Mobilmachung bis zur Niederlage entsteht so ein Echolot jener Tage: Trennungsschmerz und patriotisches Hoch, Todesangst und Heldenmut, Freudengesänge und das nackte Grauen stehen unmittelbar nebeneinander. Geschichte von unten erzählt und gleichzeitig ein großartiges Zeitzeugnis.
Autoren
Lisbeth Exner, geboren in Wien, Studium der Germanistik, Promotion 1995. Publizistin, Autorin zahlreicher Radio-Essays und Features zu Literatur und Zeitgeschichte, u. a. über Christian Schad, Paul und Anna Ornstein, Wolfgang Koeppen, Erika Mann, Hermann Broch, Zenzl Mühsam, Annemarie Schwarzenbach, Emil Kraepelin, Thea Sternheim; Beiträge für wissenschaftliche Publikationen. Veröffentlichungen: Fasching als Logik. Über Salomo Friedlaender / Mynona (1996); Land meiner Mörder, Land meiner Sprache. Die Schriftstellerin Grete Weil (1998); Leopold von Sacher-Masoch (Rowohlt Monographie 2003); Elisabeth von Österreich (Rowohlt Monographie 2005). Gemeinsam mit Michael Farin herausgegebene Publikationen: Wanda von Sacher-Masoch: Lebensbeichte (2003); Carl Felix von Schlichtegroll: Sacher-Masoch (2003). Gemeinsam mit Herbert Kapfer herausgegebene Publikationen u. a.: Weltdada Huelsenbeck. Eine Biografie in Briefen und Bildern (1996); Pfemfert. Erinnerungen und Abrechnungen. Texte und Briefe (1999). Lebt in München.
Herbert Kapfer, geboren in Ingolstadt. Journalist, Autor, seit 1996 Leiter der Abteilung Hörspiel und Medienkunst im Bayerischen Rundfunk. Seit 2012 Redaktion und Koordination (mit Katarina Agathos, Susanne Heim) die-quellen-sprechen.de. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945. Eine dokumentarische Höredition (Bayerischer Rundfunk, Institut für Zeitgeschichte). Veröffentlichungen u. a.: Sammeltransport. Stücke (1982); Umsturz in München. Schriftsteller erzählen die Räterepublik (1988, mit Carl-Ludwig Reichert). Herausgegebene Publikationen u. a.: Richard Huelsenbeck, Hans Arp, George Grosz: Phantastische Gebete. Reprints der Ausgaben von 1916 und 1920 (1993); Vom Sendespiel zur Medienkunst (1999); intermedium 2 – Identitäten im 21. Jahrhundert (2002, mit Peter Weibel); Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Remix (2004, mit Katarina Agathos); what if? Zukunftsbilder der Informationsgesellschaft (2007, mit Stefan Iglhaut, Florian Rötzer); Eran Schaerf: fm-scenario – where palms stand (2012, mit Jörg Franzbecker); Richard Huelsenbeck: Dada-Logik 1913-1972 (2012). Lebt in München.
Verborgene Chronik 1914
Autoren: Herbert Kapfer, Lisbeth Exner
416 Seiten, gebunden
Galiani-Berlin
Euro 24,99 (D)
Euro 25,70 (A)
ISBN 978-3-86971-086-0
Verborgene Chronik 1915-1918
Autoren: Herbert Kapfer, Lisbeth Exner
816 Seiten, gebunden
Galiani Berlin
Euro 38,00 (D)
Euro 39,10 (A)
ISBN 978-3-86971-090-7