Youn Sun Nah „Waking World“
Die Welt erwacht, wenn das Licht durchbricht. Wenn die Farbe zurückkehrt – und: der Traum zerplatzt. Youn Sun Nah entwirft und erkundet auf ihrem neuen Album Waking World Regionen, die sie noch nie zuvor betreten hat: Die gefeierte Jazzsängerin aus Seoul zeichnet erstmals komplett fürs Songwriting verantwortlich. Es habe sich so ergeben, weil’s nicht anders ging:
Schreiben als Weg aus dem Dunkel, als Mittel gegen den Stillstand. So entstanden 11 eindringliche Kompositionen, die ihr elftes Studioalbum ergeben: Waking World.
„Ich dachte immer, ich sei noch gar nicht bereit, die Rolle der Komponistin zu übernehmen“, sagt Youn Sun Nah, die vor 20 Jahren ihr erstes Album veröffentlicht hat. Seither hat sie vorwiegend die Melodien anderer interpretiert – zuletzt etwa die von Leonard Cohen oder Motown-Ikone Marvin Gaye (auf dem Vorgänger Immersion, 2019). Nun also ausschließlich Eigenkompositionen: Songs, die zwischen Leichtigkeit und schmerzhafter Einsicht oszillieren, die stets ihre Handschrift tragen – im weit abgesteckten Raum zwischen Popgesten, Folk-Intimität, überraschenden Jazzinstrumentierungen, kondensiertem „less is more“.
Waking World vereint verschieden stark ausgeleuchtete Vignetten ihrer Welt: „Es geht gar nicht mal nur um Songs, sondern vielmehr um Fragmente einer Geschichte, wie direkt aufeinander folgende Sequenzen“, sagt sie. Klassische Songstrukturen umgeht sie dabei bewusst, baut die Stücke eher wie Gedichte auf, „die von einzelnen Bildern inspiriert sind“. „Zunächst befasse ich mich mit Harmonien. Dann mit der Melodie. Und dann erst kommt der Text an die Reihe.“
Geerdet und gefangener als gewöhnlich, eröffnet sie den neuen Songzyklus mit einem Vogel, der am Boden bleiben muss („Bird On The Ground“), doch der Perspektivwechsel folgt schon mit „Don’t Get Me Wrong“: Sie durchbricht die Melancholie und setzte nicht nur Worte, sondern auch einen Tanz dagegen. Bohrend und bang klingt die Frage nach abhandengekommener Pracht („Lost Vegas“), betörend schlägt das „Heart of a Woman“, und für die Hommage an die eigene Mutter („My Mother“) kommen schließlich sogar zischende Hi-Hats ins Spiel.
Während sich der Titelsong ganz langsam entfaltet, wie Tautropfen zur blauen Stunde, bilden filmische Stimmungen („Round and Round“, „Waking World“) oder das gedrosselte Lovesong-Gerüst „Tangled Soul“ den Gegenpol zur ansteckenden Unbeschwertheit, die sich gerade gegen Ende immer wieder den Weg bahnt: Über der katzenhaften Leichtigkeit der Akustikgitarre verschmelzen die Worte „We are where we are where we are“ zu einem beruhigenden Schleier (denn: „It’s OK“), und auch der eingängige Schlussstrich von „Endless Deja Vu“ meint es ernst: Schluss mit den Selbstanklagen.
Mal introspektiv, mal fieberhaft, mal ganz spärlich, dann wieder kontrastreich arrangiert mit Bläsern oder präpariertem Klavier, ist Waking World ein komplexes, weil langzeitbelichtetes Selbstporträt – mit sehr viel Licht und viel Schatten.
„Dieses Album ist beides: ein unglaubliches Vergnügen – und eine gewaltige Herausforderung“, sagt Youn Sun Nah abschließend, die ihre Herangehensweise und ihre herausragende Stellung in der Jazzwelt bis heute immer wieder hinterfragt. So nah wie auf Waking World kam man ihr noch nie. Gefeiert für „eine der schönsten Stimmen im aktuellen Jazz“ (Le Figaro), ging die in Seoul geborene Ausnahmesängerin Youn Sun Nah langsam auf die 30 zu, als sie in den Neunzigern nach Paris zog und sich intensiv mit Jazz und Chanson befasste. Noch ein gutes Jahrzehnt später markierte das sechste Album Voyage den internationalen Durchbruch – gefolgt von prämierten Meilensteinen wie Same Girl (ECHO), Lento (Gold DE) oder dem programmatischen She Moves On. Zuletzt veröffentlichte die Koreanerin das Album Immersion im Jahr 2019.
Tracks
01 Bird On The Ground
02 Don’t Get Me Wrong
03 Lost Vegas
04 Heart Of A Woman
05 Round and Round
06 My Mother
07 Waking World
08 Tangled Soul
09 It’s OK
10 Endless Déjà Vu
11 I’m Yours
Youn Sun Nah „Waking World“
Warner Music