Marianne Faithfull & Ellis Warren „She Walks in Beauty“ (Deluxe Edition)
Mit „She Walks In Beauty“ veröffentlicht Marianne Faithfull in Kollaboration mit dem Komponisten und Multiinstrumentalisten Warren Ellis eines der markantesten und einzigartigsten Alben ihrer langjährigen und außergewöhnlichen Karriere. Die Aufnahmen fanden kurz vor und während des ersten Covid 19-Lockdowns statt, währenddessen die Singer-/ Songwriterin sich selbst mit dem Virus infizierte und fast an der Krankheit starb. Zu den musikalischen Mitwirkenden zählen neben Warren Ellis auch Nick Cave, Brian Eno sowie Cellist Vincent Ségal und Produzent Head. Mit „She Walks In Beauty“ erfüllt sich Faithfull den lang gehegten Wunsch, ein Album aufzunehmen, das Poesie mit Musik verbindet.
Es ist ein Album, für das sie tief in ihre Vergangenheit eintaucht und das ihrer großen Leidenschaft für die englischen Dichter der Romantik entspringt – eine Leidenschaft, die sich während ihres Studiums bei Mrs. Simpson an der St. Joseph’s Convent School in Reading entwickelte, bevor sie im Alter von gerade mal 16 Jahren nach London ging und eine völlig neue Welt betrat – die Welt von As Tears Go By, von Mick Jagger und den Rolling Stones, Top Of The Pops – den left-hand path des Pop und des Ruhms der Bühnenstars. Es folgten Ikonografie der Sechzigerjahre und Empörung, sowie die anschließenden Jahre, die vom Kampf mit der Sucht geprägt waren – und 1979 dann die Rückkehr zu ihrer kraftvollen Weiblichkeit und künstlerischen Autonomie mit der Veröffentlichung des Albums „Broken English“, auf dem sie Heathcote Williams‘ Gedicht „Why D’Ya Do It?“ in einen Song verwandelte.
Auch auf nachfolgenden Alben vertonte sie zahlreiche Gedichte – wie etwa auf „A Secret Life“ (1995) die ihres Freundes Frank McGuinness. Auf „Seven Deadly Sins“ (1998) setzte sie sich mit Kurt Weill und Bertolt Brecht auseinander, in den Jahren 2008 / 2009 tourte sie zusammen mit dem Cellisten Vincent Ségal und präsentierte Shakespeares Sonetten. Erst Anfang letzten Jahres nahm sie an einer Stafetten Lesung von Coleridges ‘The Rime of the Ancient Mariner’ teil und jetzt schien endlich der richtige Zeitpunkt für die Verwirklichung eines Projektes zu sein, das bereits über Jahrzehnte hinweg in ihr wuchs.
Maßgeblichen Anteil daran, dass „She Walks In Beauty“ nun realisiert werden konnte, hat ihr langjähriger Freund und Manager Francois Ravard. „Es war Francois, der das Projekt auf die Beine gestellt hat“, sagt sie. „Und er war es, der Warren überredete, sich daran zu beteiligen, was wirklich schwierig war, weil Warren so unglaublich viele Dinge macht.“
„Marianne hatte eine wundervolle Idee für diese Poesie-Platte, und sie wollte sie sofort machen“, erinnert sich Ravard. „Mir gefiel die Idee auf Anhieb, und so rief ich Head an und bat ihn, zu Marianne zu gehen und ihre Lesungen aufzunehmen.“ Dann kontaktierte er Warren, um zu fragen, ob er sie auf die gleiche Weise vertonen könne, wie er es mit seinen Filmen tat. „Es dauerte eine Weile, bis er herausfand, was zu tun war, aber rückblickend sagte er, dass die Arbeit daran eine der besten Zeiten seines Lebens gewesen sei.“
Die Aufnahmen fanden zum Teil in Faithfulls Londoner Haus kurz vor und nach dem Lockdown statt. PJ Harveys Produzent Head schickte die Sprachaufnahmen an Ellis, der sich wiederrum daran machte, die Musik dazu in seinem Pariser Studio zu komponieren. „Ich habe sie nicht als Songs gesehen“, sagt er. „Ich war nicht auf Melodien oder Akkorde festgelegt, sondern konnte mir unglaublich viele Freiheiten nehmen. Es ging also nicht darum, etwas zu kreieren, das dem Text folgen oder ihn umreißen musste. Das Wichtigste war, dass es sich nicht im Weg stand.“
Er beschreibt die Musik von „She Walks In Beauty“ als eine Art musique concrete, die street sounds mit einer Reihe von akustischen und elektronischen Instrumenten sowie Bearbeitungen verbindet. „Meine bevorzugte Art, Musik zu machen, ist es, vieles dem Zufall zu überlassen, sozusagen Unfälle geschehen zu lassen“, sagt er. „Ich habe mich also von festen Strukturen wegbewegt. Diese Musik ist mein Versuch, etwas Neues voranzutreiben. Ich denke, sie ist so gut wie alles, was ich je gemacht habe“, fügt er hinzu, „sowohl in Bezug auf den Spirit als auch den Prozess, den ich durchlaufen habe.“
Ellis arbeitete in seinem Pariser Studio durch den Lockdown in der Isolation, wodurch es möglich war, sich völlig in die Lesungen zu vertiefen und so nahm das Eintauchen in die Materie sein Leben für eine ganze Weile ziemlich unter Beschlag. „Es ist wirklich meditativ, dieses Zeug immer und immer wieder zu hören“, sagt er. „Für ein paar Monate war es das Einzige, was ich mir anhörte.“ Schließlich teilte er die Musik, die er als Gegenstück zu den Gedichten komponiert hatte, mit Nick Cave, der völlig begeistert davon viele der Tracks auf dem Klavier einspielte. („Er lud sich die Songs beim Hören herunter noch während er mit mir am Telefon sprach und meinte: ‚Wow, das ist unglaublich, das ist erstaunlich!'“). Brian Eno schuf wundervolle Soundtexturen zu Stücken wie „La Belle Dame Sans Merci“ und „The Bridge Of Sighs“, während Vincent Ségal unter anderem Cello-Parts zu Shelleys jenseitigem „To The Moon“ und Byrons Late-Night-Lamento „So We’ll Go No More A-Roving“ beisteuerte.
Faithfull schöpft tief aus der Poesie von Shelley, Keats, Byron, Wordsworth, Tennyson und Thomas Hood. Mit ihren Interpretationen von Ellis‘ subtilen Klangcollagen legt sie das Herz, die Essenz, die lebendige Materie in all diesen großen Gedichten frei – erfrischt und erneuert sie mit den komplexen, lebendigen Klangfarben ihrer Stimme und bettet sie in ein subtiles Ambient-Soundgewand. Es ist ein radikaler Aufbruch und zugleich die Rückkehr zu ihren ursprünglichen Inspirationen als Künstlerin und Performerin.
Hier wird größte Poesie zum Besten gegeben und Faithfulls Darbietungen ausgewählter lyrischer Gedichte, die zu den größten in englischer Sprache gehören – Keats „Ode To A Nightingale“ und „Ode To Autumn“ – sind bedeutsam für das tiefe Verständnis um die Bedeutung und Identifikation, die die kraftvollen Ströme der Poesie innehaben.
Bei „Nightingale“ öffnet sich ihre Stimme wie eine epische Landschaft, während sie in Shelleys Miniatur-Meisterwerk „To The Moon“ so klingt, als wäre sie jenseits dieser Welt und die atonalen, ätherischen Klangtexturen, die Eno für „Bridge of Sighs“ und „La Belle Dame Sans Merci“ beisteuert, bieten eine faszinierende Grundlage für Faithfulls eindringliche Interpretationen dieser großen, dunklen Gedichte.
„Sie begleiten sie schon ihr ganzes Leben“, sagt Ellis. „Sie glaubt an diese Texte. Diese Welt, sie bewohnt sie – ja, verkörpert sie, und das spürt man. Sie meint es wirklich ernst. Es ist nicht nur einfaches Lesen. Das Beste daran, diese Gedichte zu hören, ist, dass sie einen total mitnimmt. Sie lädt dich ein, mit ihr in diese Welt zu gehen. Das macht sie auch mit einem Song. Ich war dabei – habe gesehen, was sie im Studio macht, wie sie auf eine Weise singt, so dass kein Auge trocken bleibt. Und dann fragt sie: ‚War das ok?‘. Sie hat so eine ganz bestimmte Art und eine dieser Stimmen, die einen unglaublich berühren.“
„Letztendlich kommt immer alles so, wie es bestimmt ist“, sagt Faithfull. „Das habe ich festgestellt. Es dauert vielleicht eine Weile, aber ich komme an. Ich habe all das nie vergessen. Nach all den Jahren habe ich nun wieder an diesen Fäden gezogen und sie bedeuten immer noch etwas, resonieren sogar noch mehr in mir – weil ich jetzt Lebenserfahrung habe. Lebens- und Nahtoderfahrung. Viele Male. Nicht nur einmal.“
Es ist vielleicht kein Zufall, dass der Titel ihres letzten, hochgelobten Albums „Negative Capability“ aus dem Jahr 2018, auf einem zentralen Grundprinzip der Keats’schen Poetik basiert. „Es bedeutet, im Zweifel zu leben, sich seiner selbst nicht absolut sicher zu sein. Aber dieses Mal“, fügt sie hinzu, „gab es keinen Zweifel – ich habe so lange darüber nachgedacht, dieses Album war schon so lange in meinem Kopf. Ich denke, ich wusste ganz genau, was ich wollte. Ich habe einfach die Gedichte ausgesucht, die ich wirklich mochte, und glaube, dass ich sehr viel Glück hatte. Wir haben es hinbekommen.“
Das Artwork des Albums gestaltete der britische Künstler und lebenslange Freund Colin Self, und enthält die vollständigen Texte der Gedichte sowie Kommentare. Faithfull erholt sich weiterhin von den Nachwirkungen ihrer Covid 19-Erkrankung. Und während die Welt um uns herum nach wie vor mit den Auswirkungen der weltweiten Pandemie kämpft, sollen diese Gedichte und Darbietungen den Geist beruhigen und aufbauen.
Tracks
1. She Walks In Beauty
2. The Bridge Of Sighs
3. La Belle Dame Sans Merci
4. OdeTo A Nightingale
5. To Autumn
6. Ozymandias
7. Prelude : Book One Introduction
8. Surprised by Joy
9. To The Moon
10. So We’ll Go No More a Roving
11. Lady Of Shallot
Marianne Faithfull & Ellis Warren „She Walks in Beauty“
BMG