Cédric Hanriot „Time is color“
Selten erscheinen dieser Tage Alben, denen das Intuitive, das Abstrakte und die Beseeltheit mit nonchalant artikulierter Gleichzeitigkeit innewohnen. Noch seltener sind Plattenkonzepte, die jene vermeintlichen Widersprüche mit spürbarer Selbstverständlichkeit bündeln. Verbindungen schaffen, die emotionale, soziale und gedankliche Verspannungen en passant lockern, ist das Credo von „Time Is Color“, dem neuen Album des französischen Pianisten, Komponisten, Sound-Designers und Bandleaders Cédric Hanriot.
„Time Is Color“ ist die vorläufige Standortbestimmung des 45-jährigen Musikreisenden, der das Festlegen auf ein Genre schon früh als Beschneidung der eigenen Kreativität empfand. Jedes Stück Musik, ob im Radio oder im direkten Live-Setting wahrgenommen, ließ ihn seit frühester Kindheit staunen, sagt Hanriot. Mehr noch, Musik transzendierte die Realität für ihn, wie er weiter ausführt. „Es war beinahe so als ob meine Existenz traumähnliche Züge annahm, wenn mich Noten und Akkorde umgaben, die meine Ohren erreichten“, erinnert er sich. „Jenes Staunen, das mich überkommt, wenn Musik spielt, hat sukzessive meinen Wunsch genährt, ihre faszinierende Schönheit zu meistern, und meine Musik-Leidenschaft zu vertiefen.“
Zeit spielt für ihn dabei momentan eine wichtige Rolle. Was ist Zeit? Nutzen wir sie aus Gründen der Bequemlichkeit, um Strukturen zu schaffen, die dem Drang nach Freiheit im Wege stehen? „Den Titel des neuen Albums habe ich zum Anschieben von Gedankengängen ausgewählt“, erzählt Hanriot. „Mit dieser Platte möchte ich meine eigene Auffassung dessen, was Zeit ist, mit meinen Zuhörern teilen. Zeit ist für mich eng verbunden mit Farben. Zeit kann als Einheit objektiv betrachtet werden, weil sie uns mittels Uhren und Kalendern allen vertraut ist. Aber Zeit kann auch subjektiv aufgefasst werden, denn jeder Mensch hat, je nach Umstand und Situation, ein anderes Zeitgefühl. Wir können Momente kurz oder lang empfinden, wohingegen die objektive Zeitwahrnehmung nichts Abstraktes hat. Diese Ansicht weckte in mir das Bedürfnis, Stücke zu komponieren, die meine Gedanken und Gefühle zur Variable Zeit in Musik übersetzen sollten.“
Viel Zeit fürs Sammeln von Erfahrungen brauchte es indes, bevor Cédric Hanriot das ambitionierte „Time Is Color“-Projekt in Angriff nehmen konnte. Mit 16 Jahren tief in Soul und Funk verwurzelt, erstand er aus Spaß ein Fender Rhodes, weil einer befreundeten Band der Pianist flöten gegangen war. Obschon Hanriot vorher kein einziges Instrument spielte, beförderte das Piano seine Imagination. Drei Jahre und 200 Konzerte in jeder Ecke von Frankreich später, stieß er parallel zu einer Salsa-Truppe und einem Gitarren-Jazz-Trio. Seine Learning-by-doing-Methode ebnete ihm 2006 mittels eines Stipendiums den Weg nach Boston ans Berklee College Of Music, wo er unter anderen mit John Patitucci und Herbie Hancock jammte. 2014 wurde er für seine Pianoarbeit auf Dianne Reeves Album „Beautiful Life“ mit einem Grammy Award prämiert. Zurück in Europa arbeitete er mit Lulu Gainsbourg, Gregoire Maret und Ben Powell. In Paris hat er zusätzlich eine Professur an der American School of Modern Music inne.
Ein gutes Dutzend Solo-, Trio- und Band-Einspielungen hat Hanriot bislang veröffentlicht. Seine neue Produktion „Time Is Color“ ist von filmischer Dimension geprägt. Vielgeschichtete, elektronische Texturen treffen darin auf das satte Fundament akustischer Instrumente, Kontrabass, Piano und Schlagzeug. Der aus Chicago stammende Rapper Samuel Nash führt das expressive, bisweilen funkrockige Jazz-Urban-Music-Programm mit seinem Sprechgesang zu den musikrevolutionären Blockpartys der späten 70er-Jahre zurück, als Rap noch gesellschaftspolitischen Impetus hatte. Welche Farbe die Zeit annimmt, liegt freilich im Auge des Betrachters. Auf „Time Is Color“ changiert sie zwischen erdigen Sandtönen, nachtfunkelndem Sternenleuchten und sinnlichem Rot-Violett.
Cédric Hanriot „Time is color“
Morphoisis Arts