Glänzende Aussicht

Gerade zwei Wochen alt war Bruder Acht, als er starb. Nun liegt er unter dem Fenster seiner Familie begraben und begleitet von dort aus als treuer Beobachter ihr beständiges Ringen mit der Armut. Was für eine Familie er aber auch hat! Zu elft hausen seine Eltern mit all seinen Geschwistern in Wuhan in einer winzigen Baracke, die alle paar Minuten von den vorbeiratternden Zügen der Linie Peking-Kanton durchgerüttelt wird. Die Brüder und Schwestern beugen sich der Fuchtel des Vaters, einem robusten Hafenarbeiter, der zwar im Grunde das Herz auf dem rechten Fleck hat, aber zur Gewalt und zum Alkohol neigt. Ständig fehlt es am Nötigsten, und so klauen die Brüder Zwei und Drei Kohlen, während Bruder Sieben auf den Äckern des Umlands das Abendessen zusammenstiehlt.

Gemeinsam schlägt man sich durch die unruhigen Jahre der Kulturrevolution. Doch je liberaler die Zeiten werden und je älter die Geschwister, desto entschlossener versuchen sie eigene Wege für sich zu finden. Als dieser Roman 1987 in China erstmals erschien, sorgte er für gewaltiges Aufsehen: Unerhört war die Perspektive des toten Neugeborenen, dessen Blick die auseinanderstrebenden Leben seiner Eltern und Geschwister liebevoll zusammenhält. Unerhört war gleichzeitig die Schonungslosigkeit, mit der seine unbekümmerte Stimme die verheerenden Lebensbedingungen der Arbeiterschaft zu Gehör brachte.

Bissig und zutiefst wahrhaftig erzählt, zeichnet Glänzende Aussicht ein bestechend präzises Bild der Veränderungen des urbanen China im 20. Jahrhundert.

Autorin
Fang Fang
ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Chinas. Sie wurde 1955 geboren und lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr in Wuhan. In den letzten 35 Jahren hat sie eine Vielzahl von Romanen, Novellen, Kurzgeschichten und Essays veröffentlicht. Stets spielten die Armen und Entrechteten in ihren Werken eine große Rolle. 2016 veröffentlichte sie den von der Kritik gefeierten Roman Weiches Begräbnis, für den sie mit dem renommierten Lu-Yao-Preis ausgezeichnet wurde.

Glänzende Aussicht
Autorin: Fang Fang
176 Seiten, gebunden
Hoffmann und Campe
Euro 24,00 (D)
ISBN 978-3-455-01678-9