Berg „Berg“
Drei Musiker suchen Inspiration in der traditionellen Musik ihrer Herkunftsregionen und klopfen diese auf ihr Transformationspotential ab
Die Idee zu dieser Band war erstaunlich naheliegend – Alle drei Musiker sind in Bergregionen aufgewachsen: Im Appenzellerland, im Simmental und in der Region «Sogne og fjordane» in Norwegens Westen. Das Debutalbum von BERG bezieht sich denn auch auf autochthones Liedgut: Im zerklüfteten und über viele Jahre bearbeiteten Fels dieser Lieder schürfen die drei Musiker in tieferen Gesteinsschichten nach ihren ganz persönlichen Bergkristallen. Einmal gefunden, werden die Fundstücke bearbeitet, neu geformt, geschliffen, zum Glänzen gebracht oder auch wieder eingetrübt.
Volkslied und Jazz haben sich schon immer gut verstanden – beide pflegen die Tradition der «oral history»: Wichtige Quellen sind oft nicht Manuskripte, sondern mündlich überlieferte Interpretationen oder Aufnahmen. Im spontanen und kollektiven Weitererzählen der Geschichten liegt der Spielraum, die Wandelbarkeit, die persönliche Note, die Improvisation – hier schlummert die neue Version eines alten Liedes, das Gesteinsmaterial beginnt sich zu bewegen, die Urheberschaft des «Originals» verblasst (sofern es sie überhaupt je gegeben hat). Ausgehend von Archivaufnahmen, Kindheitserinnerungen und imaginären Quellen formt BERG mit akustischen und elektronischen Instrumenten aus autochthonen Stücken eine allochthone Musik – und löst somit auch den Widerspruch von heimisch und fremd auf.
Das Eröffnungsstück «Alpsegen» benennt schon im Titel das Ritual und die allabendliche Ausrufung. Hier schälen sich aus einem diffusen Klangraum allmählich verschiedene melodische und rhythmische Zyklen, die aus der Stille aufwallen und wieder entschwinden.
In «Frost» – einer kompakten Improvisation – hören wir eine klirrende Erinnerung an den schwindenden Permafrost. Das Ohr stösst ins Innere des Berges vor – und ruft mehr dunkle Vorahnung als staunende Naturkontemplation hervor.
«Tinga og Tila» nimmt den traditionellen und stark rhythmisierten Ruf der Viehüterin nach ihren Tieren auf und wiederholt ihn gleich einem Mantra mit Bass und Klavier. Darüber und darunter klopft, zischt und knackst es geräuschvoll, als wäre die Kuhherde eher im Begriff auf der Alpweide durchzugehen als in den Stall zurückzukehren.
In «Hvor det blir godt å lande» ist die Annäherung des Trios an den Kern der Musik für einmal nicht transformierend. Die liebliche Melodie braucht nicht mehr als ein paar wohlklingende Akkorde und ein paar bedächtige Grundtöne im Bass, um zu strahlen. An den Rändern franst das Stück allerdings wieder aus: Hier ein fiepender Synthesizer, da ein schepperndes Toy-Piano, dort ein paar kräftig rumpelnde Schläge auf die Snare-Trommel.
In «Guggisberg» ist die Verwandlung des Stücks eher eine neue Setzung der Schwerpunkte. Die melancholische und vielleicht bekannteste Schweizer Volksliedmelodie überhaupt spielt plötzlich nur eine Nebenrolle: Sie hängt zerzaust und fragmentarisch über einem schweren Beat, der sich durch stetig modulierende harmonische Felder schraubt.
«Mulix» ist eine Alp oberhalb des Dorfes Bergün, im Rätoromanischen «Bravuogn» genannt. Nach einem stillen Prolog von Piano und Bass entrollt sich – ähnlich wie in «Alpsegen» – eine imaginäre Berglandschaft mit auf- und abschwellenden Klängen, Rhythmusschlaufen und Klavierpatterns, die knorrigen Schübe von Drums und Synths erinnern dabei an den sonoren Klang der rätoromanischen Sprache.
Die Melodie der «Bireweggä Polka» – ein Ostschweizer Klassiker – wird hier gänzlich der stampfenden Polka entrissen, fächert sich auf einem polyrhythmischen Geflecht auf und verzichtet sogar auf ihre Fortsetzung. Stattdessen entwickelt die «Begleitung» eine Eigendynamik und wird zur Haupthandlung.
«Eg beisla min Støvel og sala mitt Sverd» – auch «den bakvendte visa», also das «umgekehrte Lied» genannt, basiert auf einem karnevalesken und humoristischen Text, der buchstäblich alle Dinge auf den Kopf stellt. Die langsame Melodie ist der schwere Gegenpol dazu – BERG spielt sie auf einer entrückten künstlichen Orgel inmitten von knarzenden Geräuschen – und beschliesst so sein Debutalbum.
Berg „Berg“
Anuk