Christopher Dell "Das Arbeitende Konzert (Revision VI-VII)“
Das Arbeitende Konzert/ The Working Concert (Revision IV-V) ist ein offenes, diskursives Aufführungsformat des Komponisten und Musikers Christopher Dell. Das Werk ist für ein variables Ensemble komponiert und besteht aus flexiblen Modulen. Innerhalb der Dauer des Konzerts erarbeiten und zeigen die international renommierten Musiker gemeinsam mit Christopher Dell die Organisation als offene Form. Das Format lädt die Zuschauer dazu ein, musikalische Kollaboration als Schaffensprozess in Echtzeit mit zu verfolgen. Als performative Installation fragt das Werk nach den Bedingungen des Notierens, Zusammenstellens, Anordnens, Herstellens und Zeigens von Musik als räumlicher Handlung und Organisation.
Diese Doppel-CD ist das beeindruckende Zeugnis eines kunstvollen Inszenierens von strukturellen Klangbewegungen. Am Gebrauch der klanglichen und spielerischen Möglichkeiten eines Instrumentariums in der Auseinandersetzung mit der großen Form lässt Das Arbeitende Konzert/ The Working Concert (Revision IV-V) in einer in der zeitgenössischen Musik bis dahin nicht bekannten Weise die Musik im Bersten von Vielfalt und Plastizität interagieren. Dabei folgt die Musik einer wuchernden Archäologie, die das iterierende Weiterschreiben bereits vorhandenen Materials vorantreibt.
Das Arbeitende Konzert/ The Working Concert (Revision IV-V) entwickelt aus minimalem, konzis formuliertem Ausgangsmaterial die große Form. Dieses Verschalten von minimalen Strukturen entspricht dem Verfahren der Proliferation, wie es Boulez beschrieben und angewendet hat. Das Verfahren spricht von der innovativen Ausbreitung und Verarbeitung des musikalischen Ausgangsmaterials. Dem Konzert kommt dabei der ausgeprägte Sinn für Klangstrukturen und Zeitverläufe zu Pass, der zu einem Klangbild verhilft das selbst den Hörern, denen die Musik zunächst fremd anmutet, durch die Vielfalt und Ästhetik der irisierenden Klangfarben angesprochen sind. Vor die Entscheidung gestellt, etwas einfacher oder schwieriger zu gestalten, wählt die vorliegende Aufnahme die zweite Option. Größtmögliche Komplexität statt Einfachheit ist das künstlerische Ziel von Das Arbeitende Konzert/ The Working Concert (Revision IV-V).
Als Komponist setzt Dell performative Strategien und relationale Zellen an die Stelle von Themen. Auf minimalen strukturellen Parametern wie Intervallen oder rhythmischen Einheiten basierend, erlauben es die Strategien gerade in ihrer Reduziertheit das maximal komplexe relationale Neuverschalten musikalischer Strukturen. Im Zusammenspiel der Akteure auf der Grundlage dieser Arbeit geschieht ein andauerndes Agieren und Reagieren als Durchwirken und Umformen einer musikalischen Dimension durch die jeweils andere. Resultat ist eine hinreißende kaleidoskopartige Erfahrung permanenter Verwandlung.
Durch die Verwendung von kompositorischen Verfahren wie Drehung, Verkürzung, Heterophonie (das ist die gleichzeitige Ausführung einer Struktur und ihrer Varianten) schaffen Dell und seine Mitmusiker die Möglichkeit, das Ausgangsmaterial in unterschiedlichen Perspektiven zu zeigen. Gründend auf einer harmonischen Kernstruktur, unterziehen die unterschiedlichen Stimmen die jeweils aktualisierte melodische Struktur einer Simultanvariation, greifen Töne, Raster, Kontur, Rhythmus auf und bringen sie in anderer Abfolge oder rhythmisch variiert. Ein solches Spiel mit und Arbeit an dem Wuchern der Klangtextur lässt die Musik förmlich explodieren und schafft eine völlig neuartigen musikalischen Raum. Darin spiegelt sich eine Tendenz zu multiperspektivischen Klangwirkungen wieder, in dem sich alle für das Schaffen von Dell wichtigen kompositorischen Mittel gewissermaßen ‚stapeln’ und ‚verschalten’.
Das Arbeitende Konzert/ The Working Concert (Revision IV-V) bricht dort mit dem linearen Zeitbegriff der abendländischen Musikkultur, wo das Ensemble das Ausgangsmaterial in diskontinuierlicher und überraschender Weise weiterschreibt: Es gibt kein leeres Blatt, keine tabula rasa, keinen Behälterraum – alles ist von Beginn an vorhanden. Einschübe von konträren Charakteren ermöglichend, entsteht hier Kontinuität der großen Form gleichermaßen durch Geschwindigkeit der Handlungen. Darin steigt der Rhythmus – in Absetzbewegung zur rein unterstützenden Indienstnahme in der traditionellen westlichen Musik – zum rational regulierten und erstranging bedeutungskonstituierenden Element der Komposition auf. Das Zusammenwirken von akustischem und elektronischem Material gibt den Musikern die Möglichkeit, die Hauptkomponenten der Musik, Tonhöhe und Rhythmus in einem bis dato unerreichten Grad zu integrieren. Gepaart mit der Fähigkeit der Musiker, nicht nur Material zu generieren, sondern auch interaktiv zu entwickeln, fortzuführen und zu variieren, provoziert das Konglomerat einen faszinierenden harmonischen und kontrapunktischen Reichtum.
Dells Werk drängt zum Performativen, zur Auseinandersetzung mit dem Körper, der Handlung und dem Raum. Von daher erklärt sich, dass die Aufführungen von Das Arbeitende Konzert eher als eine Installation aus Musik, Raum und Performance zu verstehen ist, als ein herkömmliches Konzert. Dell fordert die kompositorischen Expeditionen ins Unbekannte und Existenzielle. Indes versteht sich seine Komposition nicht als einen immerwährend Suchendes sondern grundsätzlich Findendes, als Extremperformance, die mit jedem ihrer Werke aufs Neue in unbekanntes Terrain erschließt. Anders als im ästhetisch einmal für gut Befundenden zu verharren, befragt und erweitert Dell mit jedem Werk die Voraussetzungen des Wirkens. Wo nichts als von vorneherein als gegeben hingenommen wird, wird stets von neuem auf den Grund gegangen, um zu jenen Fragen zu gelangen, die hinter den Antworten liegen. Dell zielt darauf ab, das musikalische Narrativ nicht aus einer sprachähnlichen Äußerung oder aus Klängen sondern aus der Spielhandlung mit dem Material selbst zu entwickeln und beabsichtig eine Performanz der Gleichzeitigkeit, der strukturellen Durchdringung und Verdichtung durch Überlagern, Schichten, Brechen und Verschalten.
Stets anders und doch unverwechselbar zu sein, so ließe sich das Schaffen von Dell umreißen. Wo jede Struktur aufs Genauste präzisiert und jedes Instrument genau platziert ist, bleibt doch die Verschaltkapazität der Installation offen für das Unplanbare. Und das ist eine großartige Sache, denn Das Arbeitende Konzert/ The Working Concert (Revision IV-V) ist womöglich das beste Album, an dem die Dell je beteiligt war.
Über eine Spanne von 2 CDs, ist Das Arbeitende Konzert/ The Working Concert (Revision IV-V) ein Fest für die Ohren, eine reiche Erfahrung, intim und öffnend zugleich, symphonisch expansiv, und, wie der Titel suggeriert, voll von aufregender Komplexität.
Christopher Dell „Das Arbeitende Konzert (Revision VI-VII)“
edition niehler werft