Moka Efti Orchestra „Telegramm“
„Wir haben das Privileg, alles, was uns im Laufe unseres Lebens musikalisch geprägt hat, zu unserem eigenen Destillat zu kochen, und das mit diesen wunderbaren Musikern, diesem fantastischen Klangkörper: Unser ureigenes Wunschkonzert!“
Mario Kamien, einer der Gründer des Moka Efti Orchestras, fasst zur Veröffentlichung des zweiten Albums Telegramm Werdegang und Verortung des MEO treffend zusammen. Denn was als Big Band für Tom Tykwers Babylon Berlin begann, ist längst ein über die Jahre zusammengewachsenes Ensemble geworden, in dem die besten Jazz Cats Deutschlands ihre musikalische Manege bekommen. Aus einer für die Serie zusammengestellten Gruppe von talentierten Musikern wurde ein Orchester mit eigener Identität.
Dass es überhaupt eine Fortsetzung nach dem Debütalbum geben sollte, war allen Beteiligten schnell klar. Zu sehr wandelte man bereits mit dem Erstling auf eigenen Wegen. Die Serie fungierte letztlich vornehmlich als Geburtshelfer. Das Orchester hat rasch das Haus verlassen und sich emanzipiert, wie Nikko Weidemann, das zweite von drei Gründungsmitgliedern, bekräftigt: „Unser initialer Auftrag war, das Gefühl, die Temperatur der späten 20er Jahre zu erfassen. In den sechs Jahren seitdem sind wir bis zu zwei oder drei Jahrzehnte aufgerückt.“
Dennoch bleibt die Musik des MEO cineastisch. „Auch bei dem neuen Album blieb die Idee, Musik für imaginäre Filmszenen zu schaffen, eine Inspiration“ sagt Sebastian Borkowski, Saxophonist, Arrangeur und dritter MEO-Urheber. „Mit jedem Song öffnet sich eine eigene Szene.“
Also nutzten Borkowski, Weidemann und Kamien die Pandemie-Monate, nahmen zu Hause oder im Studio rudimentäre Demos auf – Drum-Loop, Klavier, Mund-Bläser, Gesang –, dann folgte die zweite Phase, die Arrangements für das Orchester und Borkowski arrangierte echte Bläser. Im Anschluss gab es die ein oder andere Probe mit Rhythmusgruppe und zwei einwöchige Aufnahmeblöcke mit großem Besteck. Abschließend kamen die Gesänge an die Reihe.
„War auf dem Debüt Erstausgabe teilweise noch Material aus der Serie integriert, ist Telegramm eine in sich geschlossene Reise, ohne dass wir den Startpunkt vergessen haben“, erklärt Borkowski. Wie bei dem Debüt beginnt diese Reise mit einer Instrumentalnummer, dem feingliedrigen Tresor Unser, bei dem beschwingt steppend die ersten Meter zurückgelegt werden. Ganz nebenbei: Welche Band mit derart vielen herausragenden (Gast-)Sänger*innen erlaubt es sich heutzutage schon, mit einem gesangslosen Stück anzufangen?
Speaking of which: Wie schon auf dem Erstling geben sich auch auf Telegramm illustre Gäste die Klinke in die Hand, denen MEOs Einzigartigkeit, die Spielfreude und die große Resonanz seitens des Publikums nicht verborgen geblieben ist. „Nach einem unserer Konzerte in Kassel lud mich Clemens Rehbein, der Sänger von Milky Chance (Stolen Dance), zum Songschreiben ins Studio ein“, erzählt Weidemann. Rehbeins Stimme passt perfekt zur daraus entstandenen Single Last Chance Sweet Valentine; fast verwandelt sich der Hesse hier in einen deutschen Jamie Cullum.
Den Gesang bei Turquoize teilen sich samtig Friedrich Liechtenstein und Severija, die bereits das mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Zu Asche, zu Staub unverwechselbar intonierte. Genau wie bei Sohn und Join the club halten hier erstmalig afro-kubanische Rhythmen und Latin Grooves Einzug. Turquoize stammt aus Weidemanns Fundus. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil, wenn gestandene Musiker die treibenden Kräfte sind; alle bereits ein paar Mal um den Block und jeder imstande, auf langjährige Erfahrung und ausreichend hochwertiges Material zurückzugreifen.
Bedeutend – komponiert und gesungen von Mario Kamien – könnte aus einem Hollywood-Streifen der 50er Jahre stammen, oder doch von einer Manfred-Krug-Platte Ende der 60er? Oder aber aus einer anspruchsvollen Big-Band-Gala der 70er. Kamien versteht es erneut meisterhaft, den Klang der Sprache vergangener Tage heraufzubeschwören.
Wie schön Pop, Chanson und Bar-Jazz miteinander verschmelzen können, zeigen MEO bei Join the club. Zum zweiten von Severija gesungenen Lied wünscht man sich in einen von Zigarettenqualm verzierten Club ganz nah vor die Bühne.
Um wunderbar atmosphärische Nummern wie die weiteren Instrumentals Sohn und Eilmeldung unter aktuell veröffentlichter Musik zu finden, müsste man sehr lange suchen und vermutlich umsonst. An dieser Stelle seien nochmal die Bläser des Moka Efti Orchestra hervorgehoben. Nicht nur bei Eilmeldung bereitet die von Saxophonist Borkowski arrangierte Instrumentengruppe einem nichts als Freude. Für sie gilt, was auch für die Gesamtheit des Albums gilt: Hier muss nichts auf Hit getrimmt werden, einzig der pure Genuss an Musik steht im Vordergrund.
Bei Dog Gone Love klingt Nikko Weidemann wie ein 30-jähriger, der in Swing und Jazz badet und beides zurecht als legitim moderne Musik begreift und interpretiert. Das Orchester entzieht sich derweil einer zeitlichen Zugehörigkeit. Während man mitnickt und mit dem Finger schnippt, wird sehr schnell egal, wo genau der Ankerpunkt für diese Musik liegt.
Roland Satterwhite, der Geiger des MEO, singt We Can Stop The Show und beweist, dass in diesem Ensemble scheinbar mühelos jeder die Rollen wechseln kann. „Unsere Kombination an Musikern ist ein Alleinstellungsmerkmal“, erläutert Kamien. „Wir sind weder eine akademische Jazz-Big-Band im Sinne von „L’art pour l’art“ noch selbstverliebte Singer-Songwriter; beim MEO gibt es keinen musikalischen Standesdünkel.“
Tja, und dann gibt es – natürlich – noch den Brecht/Weill-Song Surabaya Johnny. Eine naheliegende Wahl, und vielleicht gerade deswegen kann man sich das sechsminütige Werk jetzt schon als zehnminütigen Live-Favoriten vorstellen. Tatsächlich hat das MEO es bereits seit Monaten im Programm. Weidemann macht sich hier singend nochmal um ein paar Jahre jünger.
Den Abschluss vergoldet das MEO mit dem Sänger, Schauspieler und Sprecher Karsten Troyke, der sich vor allem mit jiddischen Liedern einen Namen gemacht hat. Ein Ballade hat Troyke von der Holocaust-Überlebenden Sara Bialas Tennenberg gelernt. Darin heißt es: Die ganze Welt ist mehr nisht wie a Maissele – Die ganze Welt ist nicht mehr als eine Geschichte. Aber eine traurig-schöne wie diese, oder?
Telegramm beweist einmal mehr: Die Stärken des Moka Efti Orchestra kann man nicht einfach kopieren, nicht herbeiwünschen. „Jeder von uns ist Jäger und Sammler“, fasst Kamien die MEO-Situation mit einem schönen Bild zusammen. „Manchmal ist es besser, allein auf Wanderschaft zu gehen, irgendwann trifft man sich am Lagerfeuer und bereitet dann das Mahl zusammen vor.“
Oder anders: Man sammelt Töne, Noten, Gesänge, Melodien und schickt das Ergebnis schließlich als Telegramm hinaus in die Welt.
Tracks
1 Tresor unser
2 Last chance sweet Valentine
3 Turquoize
4 Bedeutend
5 Join the club
6 Sohn
7 Dog gone love
8 Eilmeldung
9 We can stop the show
10 Surbaya Johnny
11 Ein Ballade
Moka Efti Orchestra „Telegramm“
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