Talking to Myself
Chris Jagger hat den Lockdown damit verbracht, endlich seine Autobiographie „Talking To Myself“ zu beenden, an der er seit geraumer Zeit gearbeitet hat und die nun erschien. Ein prall gefülltes, detailfreudiges und amüsantes Gossip-Märchen, das weit zurück auf seine Jugend in Dartford, Kent zurückblickt, wo er gemeinsam mit seinem älteren Bruder Mick aufwuchs. Und natürlich zeichnet es das Erwachsenwerden der beiden Geschwister nach – und ihre eng verbundene, lebenslange Liebe zum Blues. Und nicht zuletzt sind auch die musikalischen Abenteuer des jüngeren Jaggers ab Beginn der 70er Jahre verzeichnet; inklusive recht unterhaltsamer Exkurse über seine Reisen nach Indien, Pakistan, Afghanistan und nach Israel, wo er in einer Produktion des Musicals „Hair“ mitwirkte.
„In den 1990ern dachte ich daran, ein Buch zu schreiben, als ich an einigen journalistischen Beiträgen arbeitete“, erklärt der lebenslange Multitasker, der laut seiner illustren Vita zudem die Bretter mit Pierce Brosnan und Ciarán Hinds geteilt hat, Blues-Dokumentationen für die BBC und Sky Arts produzierte und flüchtige Textergänzungen zu den beiden Rolling Stones-Alben „Dirty Work“ und „Steel Wheels“ hinzufügte. „Ich habe versucht, das Projekt ein paar Leuten vorzustellen. Ich stellte fest, dass die Literaturwelt eher schwerfällig funktioniert. Ich nahm mir einen Literaturagenten – und wir sprechen hier von einer Zeit, in der man seine Briefe noch auf der Schreibmaschine einhämmerte – brachte es aber nicht viel weiter als auf ein paar Probe-Kapitel. Also legte ich meine Pläne erstmal auf Eis. Das Lustige war: Sobald ich das altehrwürdige Alter von 40 Jahren erreicht hatte, schien sich auch meine Einstellung zu ändern. Ich entschloss mich, nur noch zu tun, was ich selbst wollte und mich nicht mehr darum zu kümmern, was Andere darüber denken könnten. Vielleicht war ich in der Vergangenheit einfach zu bemüht, meine Unzulänglichkeiten zu verstecken und scheute mich vor der Kritik Anderer. Man übertreibt es einfach, seine Taten zu rechtfertigen. Was die Leute sagen oder in der Zeitung über dich schreiben, kann extrem verletzend sein, wenn man es zu sehr an sich heranlässt.“
„Ich dachte nur: Scheiss drauf…“, ergänzt Jagger. „Und fuhr fort, die Musik zu spielen, die ich spielen wollte. Auch wenn sie nicht kommerziell war. Irgendwann würden sich die Anderen schon daran gewöhnen und einlenken. Eine Tatsache über die Cajun-Musik – so dachte ich – wäre, dass sie nie aus der Mode kommen würde. Weil sie einfach nie groß in Mode war. So wie Folkmusic, die immer da ist und die Leute immer neu für sich entdecken.“
Also setzte Jagger die Arbeiten an seinem Buch im Jahr 2019 fort. Auch, wenn dies hieß, eine kleine Pause von seinen Liveauftritten einzulegen, mit denen er sich den größten Teil seines Erwachsenenlebens vertrieben hatte. Seine letzte Konzertreise bestand aus einer World-Tour mit Charlie Hart im Jahr 2018/ 2019. Den folgenden Lockdown verwandelte er kurzerhand in eine unvorhergesehene Zugabe, wie er weiter erklärt. „Das Schreiben nahm mehr Zeit in Anspruch, als ich erwartet hatte. Mir wurde klar, dass ich dem Buch meine ganze Aufmerksamkeit widmen musste. Das stellte sich als schwieriger heraus als gedacht. Es ist gut und schön, ein paar Geschichten miteinander zu verbinden. Doch was war es, was meinen persönlichen Stil ausmachte? Ich schrieb alles ganz alleine – ohne die Hilfe eines Ghostwriters – und musste meine ganz eigene Stimme finden. Man will ja nicht zu literarisch werden. Aber vielleicht ein ganz kleines Bisschen. Also warum nicht?“
War es auch wichtig, seine Geschichte der Rolling Stones zu erzählen?
„Nun ja. Wenn man das Glück hatte, seinen Bruder mit 14, 15 Jahren in einer Blues-Band zu erleben, sind diese Geschichten in meinen Augen interessanter, als die Erfahrungen, die meine Altersgenossen sonst so gemacht haben. Sie mochten Marty Wilde und Cliff Richard, während ich Jimmy Reed und Howlin` Wolf hörte. Das war so viel erwachsener. Diese Musik zu kennen, gab einem den Ausblick in eine völlig andere Welt.“
„Im Buch gibt es eine Passage, in der ich mir die so langsam flügge werdenden Rolling Stones im Londoner The Scene Club anschaue“, so Chris weiter. „Ich hatte das tatsächlich vor ein paar Jahren schon mal aufgeschrieben, als ich mich noch an jede Einzelheit wie Keith und sein Barrett erinnern konnte. Das erschien mir als wichtiges Element, also habe ich versucht, es nochmal zum Leben zu erwecken. Die Kapitel, die mir am meisten Spaß gebracht haben, waren jedoch die über meine Reisen; besonders nach Indien. Ich hätte wohl ein Reisejournalist werden sollen. Doch ich habe nicht wirklich Wert darauf gelegt, jedem von den wunderschönen Orten zu erzählen, an denen ich war. Man wäre nur dort hin geströmt und hatte sie zerstört!“, fügt der ebenso höchst amüsante wie auch sachliche Chris Jagger hinzu, der offenbar schon in jungen Jahren eine ordentliche Portion Wahrheitsserum aufsog, von der er bis heute zehrt.
Andere Frage: Wird „Talking To Myself“ die einzige Aufzeichnung der Jagger-Familie bleiben, falls Mick niemals seine eigenen Memoiren schreibt? „Well… Ich habe keine Ahnung“, so Chris zögernd. „Ich erzählte ihm, dass ich mein Buch fast fertig hätte und wir uns nun an seines machen sollten. Er hat nur gelacht. Er würde ein phantastisches Buch schreiben. Er verfügt über eine extrem gute Erinnerungsgabe; alleine deshalb würde ich seine Story gerne mal lesen. Wir teilen die gleichen frühen Einflüsse, in deren Zentrum immer unsere Eltern standen. Ich hoffe, die LeserInnen werden diese Einzelheiten mögen; wie meine Mutter und mein Vater ausgesehen haben zum Beispiel. Das Schreiben kann oft sehr nüchtern und erklärend sein; es muss nicht immer poetisch sein. Ich habe sogar ein paar Rezepte mit eingebaut“, so Chris lächelnd.
Und der Titel? Chris beichtet schmunzelnd, dass er eine Weile dafür in Anspruch nahm. „Als Alternativtitel hatte ich `I Was There` im Kopf. Oder auch `Relative Obscurity`“, so die lachende Antwort. „Es ist ja nicht so einfach, einen Titel zu finden. Elton John hat sein Buch `Me` genannt. Ist das etwa ein guter Titel?“
Am Ende machte dann doch „Talking To Myself“ das Rennen – ein Titel, der sich ebenfalls als Jazz-angehauchter Song auf seinem kommenden Album „Mixing Up The Medicine“ wiederfindet.
Talking to Myself
Autor: Chris Jagger
376 Seiten, gebunden
Sprache: Englisch
BMG Books
Euro 20,00
ISBN 978-1-911-37418-3