Daniel Lanois „Player,Piano“

„Die Arbeit an diesem Album war eine gewaltige Reise – sie hat mich in ganz unterschiedliche Welten transportiert“, berichtet Daniel Lanois. „Ich bin zum Beispiel nach Kuba, nach Mexiko und nach Jamaika gereist. Und ich hatte Begegnungen mit den Geistern von Leuten wie Erik Satie, Oscar Peterson und Harold Budd. Auch ein paar Zeitreisen konnte ich unternehmen, zurück zu meinen eigenen Aufnahmen mit Brian Eno und Kate Bush und Emmylou Harris. Und all das, ohne jemals auch nur einen Fuß aus meinem Studio gesetzt zu haben …“

Klickt man auf den Play-Pfeil und taucht ein in Lanois’ brandneues Instrumentalalbum Player, Piano, begibt man sich in der Tat auf eine große Reise – und wird davongetragen. Jeder einzelne Song fungiert als eine Art Portal: Als Einladung dazu, sich im Moment zu verlieren, einzutauchen und eins zu werden mit einer Welt der Imagination, der Vorstellungskraft und der Erinnerung. Lanois hat das neue Album komplett im Alleingang aufgenommen. Im eigenen Studio in Toronto entstand nach und nach eine Reihe von sanften, exotisch klingenden Klavierstücken – die zugleich intim und ausladend wirken. Als Co-Producer stand ihm einzig Dangerous Wayne Lorenz zur Seite. Die Melodien der Kompositionen entfalten sich ganz langsam und anmutig, umspielt von schwerelosen Arrangements, die sich bewegen wie Nebelschwaden, die durch Berglandschaften ziehen. So ist Player, Piano mehr als ein gewöhnliches Album: Es ist ein Portal in ein episch angelegtes und leinwandgroßes Universum voller Geheimnisse und Wunder. Ein Tor zu einem Ort, an dem die Grenze zwischen Realität und Fantasie verschwimmt. Wo tiefe Wahrheiten und Sehnsüchte auf unerwartete Weise zum Vorschein kommen.

„Obwohl die Stücke ohne Worte auskommen, zeugen diese Kompositionen von einer Verletzlichkeit“, findet Lanois. „Es gibt ja auch keinerlei Schleier – keinerlei Distanz zwischen der Musik und diesem sehr persönlichen Ort, von dem sie stammt.“

Obwohl das neue Album gänzlich anders klingt als das zuletzt veröffentlichte, mit kompletter Band eingespielte und von Soul/Gospel inspirierte Heavy Sun (März 2021), dürfte diese klangliche Neuorientierung niemanden verwundern, der mit Lanois’ Werk einigermaßen vertraut ist und somit weiß, wie sehr er es liebt, sich neu zu erfinden. Längst einer der renommiertesten und einflussreichsten Producer der jüngeren Popgeschichte, stand er für ikonische Album-Meilensteine von so unterschiedlichen Größen wie Bob Dylan und Neil Young, U2 und Peter Gabriel hinter den Reglern. Als Songwriter wiederum kassierte er ebenfalls reichlich Kritikerlob, wenn er etwa die Musik zu Oscar-prämierten Filmen oder Video-Blockbustern beisteuerte – ganz zu schweigen von den gut zwei Dutzend Soloalben, die er parallel dazu veröffentlichte und damit regelmäßig Genregrenzen ausradierte. Der US-Rolling Stone schrieb daher sogar schon, dass seine „unverkennbaren Fingerabdrücke auf einem ganzen Flügel der Rock & Roll Hall of Fame“ zu finden seien – man denke etwa an The Joshua Tree, Wrecking Ball und Time Out Of Mind –, während NPR ihn vor allem als Schöpfer seiner eigenen „brillanten Alben mit emotional bewegenden Songs“ feierte. Doch als dann die Pandemie jede Art von Reisen und das für ihn sonst so wichtige persönliche Zusammenarbeiten unmöglich machte, saß Lanois plötzlich allein in Toronto. Er hatte sein ganzes Studio für sich – und dazu wahnsinnig viel Zeit.

„Margaret Marissen, die eine gute Freundin von mir ist, hatte mir schon davor immer wieder nahegelegt, doch mal ein Soloklavieralbum aufzunehmen“, berichtet Lanois und gesteht: „Allerdings mag ich, um ehrlich zu sein, den Sound von zeitgenössischen Klavieraufnahmen gar nicht so besonders. Es gibt da so eine Art Wettbewerb, alles muss immer noch ein bisschen lauter und heller klingen – wodurch das Instrument in meinen Ohren wirklich rau und spröde wirkt. Also sagte ich mir: Wenn ich eine Klavierplatte mache, dann muss sie wie Aufnahmen aus den Vierzigern oder Fünfzigern klingen – denn damals hatte das Klavier noch diesen ganz weichen und wunderschönen Klang.“

Also machten sich Lanois und sein Co-Producer Lorenz daran, den Klang der drei Pianos in seinem Studio zu verändern, sie gewissermaßen zu präparieren: Sie nutzten Geschirrtücher, um die Saiten zu dämpfen, und befestigten kleine Filzstücke auf den Köpfen, um dem Anschlag diese gewisse Härte zu nehmen. Und was die Aufnahmetechnik angeht, setzten sie auf alte Bändchenmikrofone, die sie nicht vor, sondern hinter den Instrumenten positionierten, was den Sound sogar noch weicher und sanfter machte.

„Natürlich wird es da draußen jetzt Leute geben, die einen Herzinfarkt bekommen, wenn sie sich vorstellen, wie wir all diese kleinen Filzhüte auf die Hammerköpfe gezogen haben – und das bei einem wunderschönen Steinway-Flügel!“, meint Lanois und lacht, „aber das Ergebnis war einfach so viel gefühlvoller und so viel nuancierter. Es eröffnete mir vollkommen neue Welten, die ich als Komponist erforschen konnte.“

Tatsächlich hatte der Schreibprozess etwas von einem Erforschungstrip, wie Lanois weiter berichtet: Oft habe er einfach am Klavier gesessen und gar kein Bild davon gehabt, wohin die Reise eigentlich gehen sollte. Also habe er einfach das Gefühl interpretiert, das eine bestimmte Ära oder ein bestimmter Ort, der in seinem Leben wichtig war, in ihm weckte. Er ließ sich darauf ein, bohrte tiefer und tiefer, bis die Immersion komplett war und sich die Musik wirklich wie das imaginierte Ziel anfühlte. Das bezaubernde Stück „Puebla“ etwa evoziert (sehr schöne) Erinnerungen an seine Zeit in einer mexikanischen Kleinstadt, während das hypnotische „Parade“ zwischen scharfen und weniger scharf gezeichneten Bildern oszilliert: genau wie die begeisterte Perspektive eines Kinds, das staunend einen aufwendig geschmückten Umzugswagen in einer Parade vorbeiziehen sieht. „Lighthouse“ wiederum flirtet mit Dub und lässt das ausgelassene Treiben in den Straßen von Kuba und Jamaika aufleben. Auch befreundete Kolleg:innen und musikalische Wegbegleiter:innen aus unterschiedlichen Schaffensphasen dienen gelegentlich als Inspirationsquellen: Das sanfte „Eau“ erinnert etwa an den klagenden Gesang einer Emmylou Harris, das nachdenkliche „Cascade“ an die surrealistischen Fantasie-Klangwelten von Kate Bush und Peter Gabriel – und das psychedelisch angehauchte „Clinch“ ist nach dem berühmten Fotografen Danny Clinch benannt, der in diesem Fall eine musikalische Idee zur Verfügung stellte, aus der schließlich diese ganz neue Klavierkomposition hervorgehen sollte.

„Ich habe Danny gefragt, ob es für ihn okay ist, wenn ich nur den von Christopher Thorn gespielten Schlagzeugbeat aus einem seiner Tracks nehme – und dann etwas komplett anderes daraus baue“, erzählt Lanois. „Das ist so eine Herangehensweise, die mir überhaupt sehr viel Spaß macht. Der Song ‘Sunday Asylum’ basiert zum Beispiel auf einer Kernidee, die ich schon vor Jahren für den Film Slingblade aufgenommen habe – und ‘ZsaZsa’ greift Elemente meines älteren Stücks ‘JJ Leaves LA’ auf“, erzählt er weiter. „Manchmal können derartige Anleihen aus der Vergangenheit zu etwas grandiosem Neuen inspirieren – und so gesehen bezeichne ich mich auch gerne als Künstler, der Collagen macht.“

Tatsächlich sind die auf Player, Piano versammelten Aufnahmen in vielerlei Hinsicht klangliche Collagen. „So gut wie alle harmonischen Ergänzungen, die man auf dem Album hören kann, sind aus Klaviersamples aufgebaut: Kurze Aufnahmeschnipsel, die ich zerlegt und bearbeitet habe, um sie dann wieder in die Arrangements einzufügen“, erklärt Lanois. „Dieser Ansatz, also diese Art von Editing-Prozess, ist überhaupt zentral für meine Arbeitsweise. Ganz egal, wie weit sich diese Parts hinterher vom Sound ihrer ursprünglichen Quellen entfernt haben, ist letzten Endes doch nahezu alles, was man hört, aus demselben Stoff gemacht.“

Dieses Aus-einem-Guss-Sein ist es letztlich auch, was Player, Piano zu einem derart fesselnden und schlüssigen Hörerlebnis macht: Das neue Album von Daniel Lanois ist eine Momentaufnahme, ein Fenster in eine Phase der Isolation, in der die Musik als temporäre Flucht sowie als Verbindung zur Außenwelt besonders wichtig war, in der sie vor allem neue Möglichkeiten bot. Die darauf versammelten Songs sollen einen dabei gar nicht an exakt jene Orte transportieren, an die sie Lanois transportiert haben; sie sind vielmehr der musikalische Rahmen, in dem man auf eigene Faust tief ins eigene Unterbewusste eindringen und dort verborgene Wunder aufspüren und auskosten kann. Es sind Songs, die vor allem inspirieren und erleuchten, die etwas wachrufen sollen. Es sind Stücke, die dazu konzipiert sind, um einen in andere Sphären zu transportieren.

Tracks
1 My all
2 Lighthouse
3 Inverness
4 Parade
5 Twilight
6 Puebla
7 Eau
8 Zsa Zsa
9 Clinch
10 Sweet imagination
11 Wild child
12 Cascade
13 Sunday asylum

Daniel Lanois „Player,Piano“
Modern Recordings