Interview mit der Autorin Agnes Johanna Flügel
“Die Portugiesen beeindrucken mich mit ihrer Gelassenheit und Ruhe”
Im Interview erzählt die Autorin Agnes Johanna Flügel von ihren Lissabon-Eindrücken, wie es sich so lebt in Portugal und über die Unterschiede zu Deutschland
Buch-Magazin: Ich habe mit viel Interesse Ihr neues Buch „One-Way-Ticket nach Lissabon“ gelesen. Da auch wir Lissabon lieben, kam mir vieles vertraut vor. Wir haben ebenfalls so unsere Lieblingsecken. Hatten Sie gewisse Erwartungen an Lissabon, als Sie Ihre erste Reise antraten, oder gingen Sie völlig offen an die Reise ran?
Agnes Johanna Flügel: Ich bin völlig offen in mein Lissabon-Abenteuer gestolpert. Vor meiner ersten Reise hatte ich gar keine Ahnung von der Stadt, und auch Portugal kannte ich bisher nicht. Außer von den Erzählungen meines Vaters, der in den frühen 80er-Jahren ab und zu beruflich in Lissabon war, und einem Radiobericht über die traditionelle Kaffeerösterei „A Flor da Selva“ war ich völlig unbedarft. Ich hatte keine Vorstellungen, was mich dort erwartet und dennoch die absolute Gewissheit, dass ich dort hinmusste. Eine andere Stadt kam für mich nicht infrage. Manchmal glaube ich, die Stadt hat mich „gerufen“, auch wenn mir das ein wenig zu esoterisch klingt, aber anders kann ich es mir nicht erklären. Als ich dann dort ankam, hatte ich das Gefühl, dass Lissabon der Ort ist, nach dem ich unbewusst gesucht habe, ohne zu wissen, dass es ihn gibt. Lissabon ist dörflich und großstädtisch, ruhig und laut, wunderschön und hässlich, traditionell und modern, jung und alt und vor allem ein Schmelztiegel für Menschen aus aller Welt und das empfinde ich als unglaublich inspirierend und bereichernd.
Wie war es, als Sie den ersten Schritt aus dem Flughafen heraus in die Realität Lissabons taten?
Ich war total aufgeregt und hatte auch etwas Bammel, schließlich war ich seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder allein unterwegs, aber Lissabon hat es mir leicht gemacht, und ich habe mich sofort gut aufgehoben gefühlt. Eigentlich war mir schon beim Verlassen des Flughafens klar, dass ich in dieser Stadt leben wollte.
Lissabon hat grade am späten Nachmittag ein spezielles Licht, das uns faszinierte und immer noch fasziniert. Geht es Ihnen auch so?
Jaaaaa, das Licht Lissabons ist magisch. Ich empfinde es als schmeichelnd, warm und irgendwie umhüllend, dann noch das Pfeifen der Schwalben und mich erfüllt eine tiefe Ruhe und Glückseligkeit.
Fado, das ist Portugal, das ist Lissabon. Wenn man durch die Straßen in der Nähe des Castelo de São Jorge geht, kann es schon mal passieren, dass eine Fado-Sängerin am Nachmittag im Freien vor einem Restaurant ihr Bestes gibt. Waren Sie schon in einem typischen Fado-Restaurant?
Ein portugiesischer Freund hat seine Leidenschaft für das Fado-Singen entdeckt und mich einige Male zu seinen Auftritten in traditionellen Restaurants in Graça oder im Bairro Alto mitgenommen. Die Melancholie und Inbrunst des Fado berührt mich total, aber nur wohldosiert. So manches Mal habe ich bedauert, dass ich nicht singen kann, und mir gewünscht, einfach aufzustehen und los zu schmettern. Im Fado kann man der „Saudade“ der portugiesischen Seele so richtig nachspüren und dieses Gefühl der Sehnsucht, des wehmütigen Erinnerns oder vergeblichen Hoffens trage ich scheinbar irgendwie auch in mir. Jedenfalls schwelge ich dann in lustvoller Traurigkeit. Als die Portugiesen im 16. Jahrhundert Kolonialmacht in Brasilien wurden, benutzten sie den Begriff, wenn sie an ihre Heimat dachten. Irgendwo habe ich gelesen, dass Saudade wie ein „Liebesbrief an Verlorenes ist“ und diese Beschreibung finde ich sehr schön.
Inzwischen wohnen Sie ja den größten Teil des Jahres in Lissabon. Aktuell ist das Reisen zwischen Deutschland und Portugal wieder möglich und auch die TAP fliegt wieder. Aber die Corona-Zeit war und ist sicherlich nicht einfach u.a. auch mit der Beschränkung im Flugverkehr. Schnell mal zwischen Deutschland und Portugal zu Pendeln, war nicht möglich. War das für Sie eine Belastung?
Es ist schon komisch, wenn einem die Kontrolle über sein Leben auf einmal abhanden kommt. Ich hatte meine Flüge für das ganze Jahr bereits gebucht und plötzlich wurden alle storniert. Und auch meine Pläne, meine Buchveröffentlichungen wurden durch Corona vereitelt. Als der Lockdown losging, war ich gerade in Hamburg und saß fest. Es hat ein bis zwei Wochen gedauert, aber dann habe ich diese Zeit in Hamburg sehr genossen. Einmal mehr habe ich erfahren, dass es keinen Sinn macht, gegen Krisen anzukämpfen, und dass es besser ist, sie anzunehmen und das Beste daraus zu machen. So habe ich begonnen, täglich im Stadtpark Sport zu machen und die Natur zu genießen. Das hat mir Kraft gegeben und Trost, um diese merkwürdige Zeit gut durchzustehen.
Wie haben Sie die Reaktion der Portugiesen zur Zeit der starken Beschränkungen erlebt?
Die Portugiesen beeindrucken mich mit ihrer Gelassenheit und Ruhe. Ich finde, sie nehmen Dinge, die unabänderlich sind, einfach hin und meckern nicht so viel wie wir Deutsche. Das mag ich sehr. Mein Eindruck war, dass sie den Ernst der Situation sofort akzeptiert haben und sich ohne Wenn und Aber an die Restriktionen gehalten haben. Portugal war ja auch lange ein Beispiel für schnelle und beherzte Entscheidungen und eine glimpflich verlaufende Infektionskurve.
Selbst den Lisboetas so wie auch den Bewohnern von Barcelona zum Beispiel, wurde es am Ende schon zu viel mit den Touristen in der Stadt. Auch die Anzahl der Kreuzfahrschiffe war enorm. Jetzt gehört Lissabon aktuell doch mehr den Lisboetas. Empfinden Sie es auch so?
Absolut, und so mancher meiner portugiesischen Freunde hat aufgeatmet. Allerdings muss ich dazu sagen, dass sie nicht unmittelbar wirtschaftlich unter dem Lockdown zu leiden hatten. Traurig ist, dass viele unkonventionelle Bars, Kneipen, Läden oder Restaurants, die ich gern mochte, verschwunden sind. Das Angebot hat sich verändert, und ich kann nur hoffen, dass das alles wieder aufblüht und nicht nur internationale Ketten übrig bleiben. Ich würde mir wünschen, dass der Tourismus mit Augenmaß wieder auflebt und die Stadt nicht weiter von AirBnB-Unterkünften ausgehöhlt wird, sodass nur noch Touristen im Zentrum wohnen.
Urlaub in Lissabon zu machen ist eine Sache, dort zu leben eine etwas andere. War es für Sie schwierig, sich dort an den Alltag, an die Bürokratie, die Gewohnheiten anzupassen?
Ich habe die Andersartigkeit eher als Spannend und als Herausforderung empfunden, sonst hätte ich den Schritt nicht gemacht..
Dennoch habe ich auch zu schätzen gelernt, wie toll Deutschland ist und wie gut alles funktioniert und organisiert ist. Zum ersten Mal habe ich so etwas wie ein „Heimatbewusstsein“ entwickelt. Allerdings musste ich erst einige Unterschiede in der Mentalität verstehen lernen und das war zuweilen schmerzhaft. Was ich unterschätzt habe, ist, wie schwer es war, tiefer gehende Freundschaften aufzubauen. So herzlich und freundlich der Kontakt auf den ersten Eindruck ist, so schwer ist es, enge Freundschaften aufzubauen. Es ist nicht üblich, über Persönliches oder Probleme zu sprechen, weil man sein Gegenüber nicht damit belasten will. Lustigerweise empfinde ich die angeblich so „reservierten“ Deutschen, was das betrifft, als viel zugänglicher.
Welches sind für Sie die größten Unterschiede zwischen dem Leben in Deutschland und dem Leben in Portugal?
Da fällt mir spontan das viel herzlichere Alltagsleben ein. Das kann zwar irritierend sein, wenn man auf der Suche nach neuen Freunden ist und es überbewertet, aber den Alltag macht es in jedem Fall viel schöner. Es reicht, sich nur zweimal irgendwo begegnet zu sein, und man erkennt, grüßt sich und wechselt ein paar Worte. In Deutschland schaut man eher weg, als dass man „riskiert“, jemanden zu grüßen. Außerdem mag ich die Gelassenheit, und dass es in Portugal nicht so verbissen zugeht. Mir wird häufiger der Spiegel vorgehalten, weil ich in einigen Aspekten sehr „deutsch“ bin. Diszipliniert, zuverlässig, überpünktlich und gut organisiert. Das fällt schon auf und führt zu schmunzeln, wenn ich eine Viertelstunde früher am Treffpunkt bin und mich dann beschwere, wenn ich warten muss, wird aber auch anerkannt. Außerdem genieße ich, dass Portugal so multikulturell ist und es scheinbar besser klappt als hier.
Wie sieht es inzwischen mit Ihren Portugiesisch-Kenntnissen aus?
Ohh, die wachsen und gedeihen. Verstehen tue ich fast alles. Beim Sprechen hapert es, weil es oft schneller geht, auf Englisch umzuschwenken. Aber ich bleibe dran, da das einfach dazugehört, wenn man im Ausland lebt, und ich damit noch viel tiefer in Land und Kultur eintauchen kann.
Haben Sie weiterhin Kontakt zu Ihren ersten Bekannten aus dem Urlaub in Lissabon?
Ja, ich habe noch zu fast allen Kontakt, und ich bin froh und dankbar, dass die Saat, die ich damals gesät habe, langsam aufgeht und sich zu echten Freundschaften entwickelt.
In Ihrem Buch geht es sehr viel um Ihren Vater und Ihre Mutter, deren Weg bis zum Tod. Auch ich habe meine Eltern innerhalb eines Jahres verloren, ihnen beigestanden und auch zusehen müssen, wie die Demenz vorwärts schritt, insofern kann ich die Gefühle sehr gut nachvollziehen. Ist das Schreiben dieses Buches auch ein Teil der Verlustbewältigung gewesen? Haben Sie mit diesem Buch diese beiden einschneidenden Ereignisse besser verarbeitet?
Auf jeden Fall ist das Buch eine Aufarbeitung. Der plötzliche Tod meines Vaters und alles, was dann kam, hat mich bis an meine Grenzen geführt und meinen Lebensweg durchkreuzt und in neue Bahnen gelenkt. Das Buch ist ein Versuch, zu begreifen, was da überhaupt geschehen ist. Im Rückblick kann ich sagen, das war alles gut und zu etwas nütze. Aber währenddessen hat sich das angefühlt wie auf einem Blindflug.
War der erste Flug nach Lissabon nicht auch eventuell der Versuch, Abstand von allen Vorfällen in Deutschland zu gewinnen?
In dem Film „Die Poetin“ über die amerikanische Dichterin Elizabeth Bishop ist die Rede von „geografischer Heilung“. So habe ich das auch empfunden. Möglichst weit weg, um in der Ferne zu „heilen“. Das Tohuwabohu, das mein Vater mir hinterlassen hat, war mir über den Kopf gewachsen, ich fühlte mich überfordert, allein gelassen und hatte keine Ahnung, wie und wann das alles ein Ende hat. „Nur weg“ war mein Impuls, nachdem ich zumindest das Gröbste geregelt hatte und meine Mutter gut versorgt war. Lissabon war das leichte, lebenslustige und sonnige Gegenmodell zu der Schwere, dem Druck und den mir unlösbar erscheinenden Problemen, die auf mir lasteten. Zudem fühlte ich mich von meinem Vater „im Stich“ gelassen, und damit musste ich erst einmal lernen umzugehen.
Wie geht es heute Ihrer Honigmanufaktur? Können Sie sich wieder mehr einbringen?
In der Honigmanufaktur Flügelchen läuft alles prima und das Organisatorische und Bürokratische läuft nach wie vor über mich. Die Jungs und Mädels der Behindertenwerkstatt gehen in der Arbeit auf und verweisen mich auf die Reservebank, wenn ich die Chefin spielen will. Ich freue mich, dass sie in der Arbeit so aufgehen, ihre Talente entwickeln können und mit so viel Freude dabei sind. Besser kann es doch gar nicht sein. Außerdem kann ich mich so meinen Coaching-Aktivitäten widmen. Meine eigenen Erfahrungen haben mich motiviert, eine Ausbildung zum Coach zu machen, und es erfüllt mich sehr, Menschen in krisenhaften Situationen oder in Veränderungsprozessen zu begleiten.
Inzwischen scheinen nach Frankreich, Spanien und Italien, Krimis, die in Portugal, speziell an der Algarve, spielen, ein Trend zu sein. Lesen Sie gern Krimis? Und haben Sie schon den einen oder anderen gelesen, der in Portugal spielt?
Ich lese keine Krimis. Irgendwie kann ich an Verbrechen, Mord und Totschlag keinen Gefallen finden. Auch Krimis im Fernsehen, sind nicht meine Welt und meistens schalte ich weg. Abgesehen davon bin ich immer noch dabei, mir die klassischen portugiesischen Autoren zu erschließen, die mir mein Freund Mario, der Wachmann aus der Camões-Bibliothek, ans Herz gelegt hat. Das macht mir mehr Spaß.
Gibt es schon ein neues Buchprojekt, an dem Sie arbeiten? Spielt auch da Portugal, Lissabon eine Rolle?
Ja, es gibt tatsächlich ein neues Buchprojekt, und ich bin sehr glücklich darüber. Momentan arbeite ich an meinem ersten Roman. Er spielt zwar nicht in Lissabon, hat aber wieder mit Bienen und Imkerei zu tun. Dem Thema bleibe ich treu. Die Idee, etwas zu schreiben, was in Lissabon oder Portugal spielt, finde ich aber sehr attraktiv und sage „niemals nie“.
Interview: Bernd Kielmann