Politik ist immer ein Kompromiss zwischen verschiedenen Interessengruppen. Doch warum gelten für Fussballstadien offenbar andere Regeln bei der Pandemiebekämpfung als für Schulen? Warum wird so viel Last auf Eltern und ins Private abgewalzt, aber nicht auf die Dax-Unternehmen? Und warum werden die Bedürfnisse von Alleinerziehenden so wenig mitbedacht? Es ist kein Zufall, dass sich immer mehr Menschen immer weniger in den Entscheidungen berücksichtigt fühlen, denn Profitlobbyismus hat zur Folge, dass Politik in Deutschland überwiegend für kleine wohlhabende Gruppen gemacht wird. Nicht ohne Grund haben Petitionen derzeit Konjunktur: sie zeigen den Beteiligungswillen der Bevölkerung und sind gleichzeitig ein Hilferuf, weil sich viele Interessengruppen von der derzeitigen Politik nicht mehr gehört fühlen und ein starkes Ungleichgewicht in der Interessenvertretung herrscht.

Der Kern der Demokratie besagt, dass der Mensch, die Bevölkerung, im Mittelpunkt steht. Doch auch der Bundestag ist eine Bubble: Die meisten Profipolitiker stammen aus einem eher vermögenden Bildungsbürgermilieu. Die Lebenswirklichkeiten und Probleme von größeren Bevölkerungsschichten werden kaum wahrgenommen. Neben Resignation und Rückzug erleben wir daher Wutbürger:innen in ihren Echokammern der Empörung. Diese züchtet die etablierte Politik selbst, denn ohne starke Lobby wird man nur noch durch laute Entrüstung wahrgenommen. Im Grundgesetz steht ausdrücklich: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes“, doch schon der Frauenanteil ist derzeit so gering wie seit fast 20 Jahren nicht, von Diversität im Bezug auf andere Faktoren ganz zu schweigen: es gibt prozentual zum Anteil in der Bevölkerung auch zu wenig Menschen mit Behinderung, Dorfbewohner:innen, Alleinstehende oder auch zu wenig Hauptschüler:innen. Kann ein Bundestag auch die Interessen jener Bevölkerungsgruppen wirksam vertreten, die sich nur spärlich oder fast gar nicht in seinen Reihen wiederfinden? Wer sich nicht vertreten fühlt, der zieht sich zurück, beteiligt sich nicht mehr. „Wir verweilen im politischen Berlin in einer Wohlstands-Bubble, die das wonnige Lobbyland umschlungen hält. Krisen erkennen wir nur, wenn Viren zuschlagen. Wir haben ein Lobbyparlament, eine Repräsentation für die Wenigen etabliert. Diejenigen, die sich abwenden, haben das richtige Bauchgefühl, denn sie sind den meisten Profipolitikern egal“, so Marco Bülow.

Wir stecken auch im Wahljahr in einer Demokratiekrise. Das Wort „Krise“ leitet sich vom griechischen Wort krísis ab und bezeichnet nicht nur eine bedenkliche Lage: es bedeutet auch „Wendepunkt“. An genauso einem Wendepunkt stehen wir: Marco Bülow zeigt in „Lobbyland. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie kauft“ nicht nur auf, wie es dazu gekommen ist, sondern auch, wie eine zukunftsgewandte Politik mit einer lebenswerten Zukunft für alle aussehen könnte. Wie können wir Profitlobbyismus eindämmen? Wie schaffen wir wieder mehr Teilhabe? Wie befreien wir uns davon, dass wir hauptsächlich zu Arbeitskräften, Konsument:innen und Teilzeitwähler:innen degradiert wurden? Wie verändern, revolutionieren wir unsere Demokratie – damit wir die wirklichen Krisen bewältigen können?

Der langjährige Profipolitiker fordert einen Kulturwandel hin zu einer Demokratie mit echter Beteiligung, echtem Austausch, echter Resonanz: Dazu gehören unter anderem ein niedrigeres Wahlalter, Wahlrecht für alle, die längere Zeit in Deutschland leben und hier Pflichten erfüllen, Bürger:innenräte als dritte Demokratiesäule, Abschaffung des Fraktionszwang für Gewissensfreiheit in den Parlamenten und mehr Transparenz für Volksvertreter:innen gemäß einem Politikkodex sowie neue offene Parteien, Räte und Plattformen, in denen Bürger:innen sich engagieren und mitbestimmen können.

Marco Bülow sieht eine demokratische Wirtschaft, in deren Mittelpunkt die Menschen stehen, als Ziel. Denn was heute produziert wird, richtet sich nicht nur nach dem wirklichen Bedarf, sondern allzu oft nach dem, was künstlich an Verlangen erzeugt wurde. Wir müssen jedoch selbst entscheiden, was wachsen und was schrumpfen soll. Gewinne können erzielt werden, vor allem, wenn man die externen Kosten gering hält, also nachhaltig produziert. Die Produktion muss ökologisch und sozial verträglich, die Produkte langlebig und reparabel sein, Unternehmen demokratisch mitbestimmt. Je größer sie sind, desto mehr Pflichten und Verantwortungen sollten sie tragen sie. Am Ende muss eine Kreislaufwirtschaft stehen, in der alle Ressourcen sich dauerhaft erneuern oder ersetzt werden können und nur Abfall erzeugt wird, der in den Kreislauf zurückgeführt wird. Klimagase und Schadstoffe dürfen die eng gesetzten Grenzen nicht überschreiten, in denen sie im gleichen Zeitraum abgebaut werden können. Konzepte wie die Gemeinwohlwirtschaft, von der englischen Ökonomin Kate Raworth etwa als Theorie der „Donut-Ökonomie“ ausgearbeitet, können den Weg weisen. Ihre Grundlage muss sein, dass möglichst viele Menschen davon profitieren und nicht ausgebeutet werden. Bei einer gerechteren Verteilung könnte Arbeit begrenzt werden und trotzdem könnten wir besser leben.

Eine Utopie? Muss es nicht bleiben! Denn genauso wenig konnten sich Jäger:innen und Sammler:innen vorstellen, dass sie irgendwann einmal sesshaft werden, geschweige denn, dass Menschen Maschinen bauen, die um die Welt fliegen können. Egal wie einfallsreich wir auch sind, wir können uns ein alternatives, zukünftiges Leben in der Politik nicht vorstellen. Im Gegenteil. Diejenigen, die es können, werden verlacht. Dabei haben wir Menschen die Erfahrung gemacht, dass sich immer alles verändert. Auch unser wirtschaftliches und politisches System ist kein Endpunkt. Die derzeitige Politik orientiert sich an der Vergangenheit, nicht an der Zukunft, und ist die Umkehrung von „for the many, not the few“. Finanzwende, Sozialwende, Agrarwende, Energiewende, Verkehrswende – die Liste der Bereiche, in der sich etwas tun muss, ist lang. Allein das zeigt, dass es nicht um eine oder einige wenige Reformen geht, sondern dass eine Grundsanierung ansteht.

Autor
Marco Bülow
, geboren 1971 in Dortmund, ist Journalist und Politiker. Er hat Journalistik, Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Dortmund studiert, wo er 1992 die Juso-Hochschulgruppe neu gründete. Seit 2002 ist er direkt gewähltes Mitglied des Deutschen Bundestages. Hier war er von 2002 bis 2005 stellvertretender Sprecher der Gruppe der jungen Abgeordneten in der SPD-Bundestagsfraktion. Von 2005 bis 2009 war Bülow umweltpolitischer Sprecher und von 2009-2013 stellvertretender energiepolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Bei der Bundestagswahl 2017 wurde er erneut direkt gewählt.
Im November 2018 trat Bülow nach 27 Jahren aus der SPD aus. Er nutzt seitdem seine Möglichkeiten als fraktionsloser Abgeordneter, um auch Bewegungen in den Bundestag zu holen. Seit Herbst 2019 lädt Marco Bülow regelmäßig Mitglieder der Klimabewegung und Parlamentarier*innen unter dem Motto »Re:claim the House« in den Bundestag ein, um den Dialog zwischen Bevölkerung und Politik zu fördern. Er ist Mitgründer der gemeinnützigen Progressiven Sozialen Plattform »plattform.PRO«, einem überparteilichen Zusammenschluss von engagierten Menschen, die eine progressive, zukunftsfähige Politik befördern wollen.
Seit Herbst 2020 ist Marco Bülow Mitglied der PARTEI und damit ihr erster Abgeordneter im Bundestag. Im Zentrum seiner Politik stehen neben der Umweltpolitik vor allem sein Engagement gegen einseitigen Profitlobbyismus, für mehr Transparenz und eine Sozialwende.

Lobbyland
Autor Marco Bülow
208 Seiten, Broschur
Verlag Das Neue Berlin
Euro 15,00 (D)
ISBN 978-3-360-01378-1