Marialy Pacheco „Reload“
Man könnte meinen, dieses Album wäre eine Kampfansage. Immerhin bedeutet „Reload“ nachladen, im Sinne von „Munition nachlegen“. Tatsächlich ist Marialy Pacheco eine Kämpferin. Sie muss es sein. Wie sonst wäre sie da, wo sie ist? Immerhin ist diese starke, kluge, charmante, lebensfrohe und überwältigend romantische Frau die einzige kubanische Jazzpianistin von Weltrang. Nicht aktuell, sondern in der gesamten Musikgeschichte. Diese und zahlreiche andere Einzigartigkeiten machen Marialy zu einer international begehrten, vielfach preisgekrönten Künstlerin. Sie sind sicherlich einer der Gründe, warum die 39-jährige Musikerin aus Havanna, die nach Stationen in Japan und Australien inzwischen in Deutschland lebt, auf diesem umwerfenden neuen Album mit ihrem Trio auch von einem deutschen Star-Trompeter, dem derzeit erfolgreichsten israelischen Bassisten und einem Mitmusiker von Sting begleitet wird. „Reload“ ist also kein Nachladen und auch kein Neustart, sondern eher eine Neuerfindung und Wiederbelebung, die jede künstlerische Errungenschaft ihrer pianistischen Persönlichkeit in ein neues, strahlendes Licht rückt. Ein Statement, in jeder Hinsicht.
Marialy Pacheco ist eine Geschichtenerzählerin. Jeder Ton, den sie spielt, hat eine Bedeutung. Egal ob sie ihren Flügel in vollen, fließenden Akkorden sprechen lässt oder die Finger stürmisch über die Tasten fliegen, immer steckt dahinter eine Idee, ein Erlebnis. Und natürlich hat sie viel erlebt. Mit sieben verliebt sie sich in das Klavier, beginnt ihre Ausbildung am renommiertesten Conservatorio in Havanna, unterstützt von ihren Eltern, die Mutter Chorleiterin, der Vater Opernsänger. Den Abschluss an der weiterführenden Escuela Nacional de Artes macht sie mit Auszeichnung. Anschließend studiert sie noch Komposition, gewinnt mittendrin als Pianistin zwei Goldmedaillen bei der Chorolympiade an der Seite ihrer Mutter, ausgerechnet in Bremen. Immer schon hatte Marialy Pacheco dieses Gefühl, diesen Traum, ihre kleine karibische Inselheimat verlassen zu müssen, um ihre Musik mit der großen, weiten Welt zu teilen. 2005 wagt sie den Schritt und bleibt in Bremen, ganz allein, nimmt dort ihr erstes Trio-Album auf. Der Titel: „Bendiciones“, also „Segen“. Sie zieht weiter, lebt in Australien und Japan und nimmt 2012 an der Solo Piano Competition des legendären Montreux Jazz Festivals teil und gewinnt – wieder als erste Frau in der Geschichte dieses Wettbewerbs – den 1. Preis der Jury. Und den Publikumspreis.
Mit „Reload“ präsentiert Marialy Pacheco jetzt ihr zwölftes, ihr berührendstes und reifstes Werk auf dem, bis auf zwei kubanische „Standards“, nur Eigenkompositionen enthalten sind. „Ich wollte meine Farbpalette erweitern“, sagt sie über das Konzept dieses Albums. „Meine kubanischen Wurzeln wachsen hier in Richtung lateinamerikanischer Traditionen und meiner Einflüsse aus der klassischen Musik.“ Authentisch, traditionell und trotzdem modern, auch durch die beiden jungen kolumbianischen Musiker Juan Camillo Villa am Bass und Miguel Altamar de la Torre am Schlagzeug. Die Summe dieser vielen Teile ergibt dabei so viel mehr, wird vor allem Ausdruck ihres künstlerischen Charakters – und macht ihre Gefühle für jede und jeden, die oder der diese Musik hören kann, unmittelbar spürbar. Man meint, ihren Schmerz zu empfinden, wenn sie die selbstgeschriebene Ballade „Flores de Invierno“ spielt, dieses melancholisch bewegte Stück über die Winterblumen, bei dem ihr Trio von Rhani Krija, bekannt als langjähriger Percussionist von Sting, unterstützt wird.
Selbst „Oye el Carbonero“, den kubanischen Klassiker über den Ruf des Kohlenhändlers, den sie im Duo mit dem israelischen Star-Bassisten Avishai Cohen interpretiert, macht sie sich zu eigen, belebt ihn auf faszinierende Art und Weise neu. Man tänzelt mit Marialy bei ihrer „Danzonete“ mit dem amerikanischen Sheila E.- und Santana-Timbalero Karl Perazzo und selbst wenn man nicht weiß, dass „Zapateo“ das Schuhklappern des Flamenco meint, wippen die Füße mit. Einer der seltenen Gastauftritte des deutschen Trompeters Nils Wülker außerhalb seiner erfolgreichen eigenen Band macht ihre hymnische Komposition „Cartagena Bliss“ zu einem Ereignis – und einem Paradebeispiel für Marialy Pachecos frische Fusion aus Jazz und lateinamerikanischer Musik. „Reload“ ist ein Schmelztiegel unterschiedlicher musikalischer Identitäten, ein Schatz umfangreicher, gesammelter Lebenserfahrungen – und eines der eindrucksvollsten und emotionalsten Alben unserer Zeit.
Tracks
1 Reload (feat. Sebastián Nickoll)
2 Zapateo
3 Oye El Carbonero (feat. Avishai Cohen)
4 El tiempo que te quede libre
5 Cartagena Bliss (feat. Nils Wülker)
6 Danzonete (feat. Karl Perazzo)
7 Flores de Invierno (feat. Rhani Krija)
8 Paseo en 6/8 (feat. Rhani Krija)
9 Noches de Baru (feat. Sebastián Nickoll)
Marialy Pacheco „Reload“
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