Sir Bradley „During My Lunch Break“

Eine Frau liegt rauchend vor einem ausgebreiteten Kartenspiel. Lässig. Sinnlich. Mit gelebtem Leben im Gesicht. Es ist genau diese coole Freigeistigkeit, die den Sound der Hamburger Jazzband Sir Bradley durchzieht. Und das Coverfoto zu ihrem Debütalbum „During My Lunch Break“ strahlt bereits sehr viel von der vielschichtigen Energie aus, die dieses charakterstarke Septett ausmacht: Wenn der Alltag pausiert, wenn die Zeit fließen und die Seele schlendern darf, wohin driften dann die Gedanken und Gefühle? Und mit ihnen die Musik? In den höchst einfallsreichen Kompositionen steigt alles auf: Erinnerungen und Fantasien, Rausch und Melancholie, verlorene Lieben und entfesselte Wut. Sir Bradley lässt all diese Zustände und Stimmungen vibrieren, lädt sie mit Groove und Dynamik auf. Denn da ist diese besondere Kraft in der Musik der Band, die all das softe Stromern und offene Treiben einfängt und nach vorne schickt. Pulsierend und fordernd, mit Reibung und Drive. Schließlich ist der Bandname von einer Begegnung mit dem legendären Rennradprofi Sir Bradley Marc Wiggins inspiriert. Das Ergebnis: Final Straight Jazz. Und den bringen die Musiker*innen in einem außergewöhnlichen Mix aus Fusion, Free und Modern Jazz an den Start.

»Es geht nicht um höher, schneller, weiter, sondern um tiefer – und zwar gemeinsam«, erklärt Bandleaderin und Bassistin Maria Rothfuchs. In dunklen Loops ziehen einen die Bläser*innen in die Eröffnungsnummer „Schatz im Silbersee“ hinein. Der Gesang gleitet zunächst lautmalerisch hinzu und das Schlagzeug setzt flirrende Akzente, die schließlich eine irisierende Traumwelt heraufbeschwören. Was würde geschehen, wenn Karl May eine Frau gewesen wäre? Catharina Boutari verquickt dieses Identitätsspiel mit Erinnerungen an eine wilde Mädchenfreundschaft. Aus welcher Perspektive werden Geschichten erzählt? Bei Sir Bradley übernimmt nicht allein die Stimme das Storytelling. Vielmehr besitzt jedes Instrument eine starke narrative Qualität. Komponistin Maria Rothfuchs kann herrlich anschaulich erzählen, wie sie ein solches Stück zunächst rhythmisch konstruiert und wie sie die Harmonien dann variantenreich zur Entfaltung bringt.

Aus Mustern, Melodien und Improvisationen entstehen ganz eigene wie eigensinnige Instrumentalstücke, denen Catharina Boutari mit ihrem Gesang einen völlig neuen Twist hinzufügt. »Da ich ursprünglich aus der Pop- und Rockmusik komme, ist das für mich häufig wie Bungeejumping. Ich schaue, welche Ideen mir im freien Flug kommen. Das Tolle bei Sir Bradley ist, dass es immer heißt: Mach doch einfach!«, erzählt die Sängerin. Mal hat sie dann Tom Waits im Hinterkopf, mal Billy Holiday – und häufig etwas ganz Individuelles und Intuitives, das aus dem Inneren emporsteigt. Doch ihre Stimme steht keineswegs in Konkurrenz mit den Instrumenten, sondern fügt sich kongenial ein in die Vielstimmigkeit der Arrangements.

„Suntrip“ etwa ist ein sonnengetränktes Stück Musik, das zunächst lässig im Bossa-Style daherkommt, aber dessen Hitze auch in etwas Abgründiges zu kippen droht. Ausgangslage war eine einfache Melodie in C-Dur, die Solo für Solo mit immer weiteren Farben zum Schillern gebracht wird. Ein sommerliches Sehnen, unter dem die Einsamkeit brodelt. „Hierbas“ wiederum ist eine Ode an den Zauber des mediterranen Kräuterlikörs. Der Song feiert jene Nächte, in denen einander vertraute Menschen zusammensitzen: Je später die Stunde, umso intensiver die Gespräche und umso größer der Glaube daran, nun endlich alles Existenzielle zu begreifen. »Am nächsten Morgen ist dieses Gefühl von Erkenntnis noch da, aber nicht mehr die Details«, erzählt Maria Rothfuchs, die ein Jahr auf Mallorca gelebt hat. »Eigentlich wollte ich einen volkstümlichen Song schreiben, der im Mallorquinischen Songbook aufgeht. Deshalb habe ich einen 6/8-Takt verwendet. Doch dann ist ein bisschen was anderes passiert.« Und genau dieses Unvorhersehbare ist das Aufregende an Sir Bradley. Da setzt das Saxophon auf einmal zu einem ungestümen Tanz an. Und das Schlagzeug schleicht sich an, rennt und dreht famos frei.

»Es ist großartig, dass wir so unterschiedliche Musiker*innen am Start haben, die alle den Stoff absolut gefressen haben«, sagt Maria Rothfuchs. »Sir Bradley ist eine Band, die es der jeweiligen Solistin leicht macht, sich vom Boden zu lösen und zu fliegen. Wir als Gruppe haben die Verantwortung, dass die anderen jeweils gut klingen.« Dieses inspirierende demokratische Prinzip sorgt dafür, dass das Publikum vor allem live ein unglaublich abwechslungsreiches Programm erlebt. Bei Jazz Baltica, Jazz Open Hamburg und dem FatJazz OpenAir 2021 hat Sir Bradley bereits heftige Begeisterung ausgelöst – bei Jazzfans und weit darüber hinaus. Die Band strebt auf die großen Festivals ebenso wie in die kleinen Clubs. Und diese Live-Atmosphäre transportiert sich auch höchst eindringlich auf ihrem Debütalbum.

Aufgenommen wurde „During My Lunch Break“ in den Hamburger Studios Milchkettenmusik (mit Matthias Tkotz) und bei Clouds Hill Recordings (mit Linda Dag). Und bei Catharina Boutaris Pussy Empire Recordings hat Sir Bradley eine Labelheimat gefunden, die popkulturelle Leidenschaft und feministische Ziele wunderbar verbindet.

Die gesamte Produktion ist in der Corona-Zeit entstanden. Insofern lässt sich der titelgebende „Break“ auch als Anspielung auf die langen Lockdown-Phasen verstehen, die das persönliche, politische und künstlerische Dasein grundlegend verändert haben. Die Frustration über diese Situation bricht sich Bahn in „Yellow Catwalk“. Ein famoser Song: provokant, verführerisch, amüsant und wütend. Mehr Spoken Word als Gesang, zudem versetzt mit einem Lamento in gescatteter Fantasiesprache. »In dem Stück möchte ich eigentlich ein goldener Sonnenschein sein, aber das klappt aufgrund des Chaos um mich herum nicht«, erläutert Catharina Boutari. »Die Natur zeigt uns, dass wir etwas ändern müssen.« Austariert werden solche grandios eskalierenden Nummern durch einen Song wie „Spring is Ready“. In dieser Komposition legt Doro Offermann ihre intensive Beschäftigung mit Blue Note, mit Wayne Shorter und Horace Silver äußerst spannend und innovativ aus. Allein wie tiefsinnig und impulsiv Magdalena Abrams in ihrem Solo die Bandbreite ihres Klarinettenspiels auslotet, ist enorm fesselnd. Catharina Boutari erkundet da mit sachte suchendem Gesang einen Lockdown-Traum, in dem die Vergangenheit neu gestaltet wird. Weil die Gegenwart stillsteht. »Ich bin wieder in meiner alten Heimat auf dem Dorf und freue mich auf ein Leben mit Einbauküche und Mixer«, sagt sie. »Eine merkwürdige und doppelbödige Situation. Und die instrumentalen Passagen machen dann noch einmal tausend Türen auf.« Durch möglichst viele davon hindurchzugehen, ist bei Sir Bradley absolut empfehlenswert. Denn dahinter geschieht stets etwas Erstaunliches. (Text von Birgit Reuther aka Biggy Pop)

Tracks
Schatz im Silbersee
David
Suntrip
Hierbas
Hello my friend
Yellow catwalk
Spring is ready
Moky Joky
Vinicunca

Sir Bradley „During My Lunch Break“
Pussy Empire Recordings