Walter Trout „Ride“

Wie schnell oder weit ein Mann auch reist, er kann seiner Vergangenheit nie wirklich entkommen. Walter Trout weiß das besser als jeder andere. Selbst im Alter von 70 Jahren schreibt der kultige US-Blues-Rock-Gitarrist noch neue Kapitel seiner Lebensgeschichte. In den letzen zwei Jahren verlängerte Trout seinen Vertrag mit seinem Label Provogue Records und zog mit seiner Familie von Kalifornieren nach Dänemark. Mit „Ride“, seinem mittlerweile 30. Soloalbum, kann Walter Trout auf eine triumphale Karriere blicken.

Und tatsächlich, Album Nummer 30 läßt da keinen Zweifel offen. „Ride“ hat eine aufladende Dynamik und eine Energie die den Puls einer Ära trifft, die von dem gesamten Weltgeschehnissen erschüttert wird. Und dennoch, als der Songwriter-Veteran zu Gitarre und Notizblock griff, fand er sich wieder inmitten der guten, schlechten und hässlichen Szenen seiner außergewöhnlichen Geschichte. „Dieses Album ist ein Schnappschuss davon, wie ich mich während dieser Pandemie gefühlt habe“, sagt er. „Ich denke, ich habe immer noch etwas Neues über die Welt zu sagen, und das ist mir wichtig. Aber mein Leben war ein Höllenritt, und als ich mir das Album noch einmal anhörte, stellte ich fest, dass viele der Songs von meiner eigene Vergangenheitsbewältigung handeln.“

Das letzte Mal, als wir Trout auf der Bühne sahen, war er als Support für das 2020 erschienene Album „Ordinary Madness“ unterwegs: ein von allen Seiten gelobtes Album, das auf Platz 2 der Billboard Blues Chart einstieg. „Und es wäre auf Platz 1 gelandet“, so der Blueser, „wenn Peter Green nicht eine Woche vor Erscheinen des Albums beschlossen hätte zu sterben und die alten Fleetwood Mac wieder an die Spitze der Charts gekommen wären.“ Auch in Deutschland konnte er Anfang Septemer 2020 mit Platz 24, seine bisher beste Chartplatzierung in den offiziellen Albumcharts feiern.

Die Pandemie zwang Trout zu einer Auszeit, wie er sie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr erlebt hatte. „Ich mache das schon seit ’69, als ich in den Bars von New Jersey anfing“, sagt er. „Plötzlich saß ich sechzehn Monate lang auf meinem Hintern, obwohl ich immer noch jeden Tag Gitarre geübt habe. Meine Frau und Managerin Marie wusste, dass ich Musik machen musste. Also schenkte sie mir zu meinem 70. Geburtstag einen brandneuen Plattenvertrag, den sie ausgehandelt hatte. Mein Produzent Eric Corne suchte ein neues Studio in L.A., und mein Plan war, im Mai ein neues Album aufzunehmen.“

Zwei Wochen vor Beginn der Aufnahmen ließ sich Trout in seinem inzwischen verlassenen Haus in Huntington Beach, Kalifornien, nieder, um das Material für Ride zu schreiben. Doch selbst in diesem Strandparadies, zwischen sich wiegenden Palmen und der Meeresbrise, wurde er von der Vergangenheit eingeholt. Wie alteingesessene Trout-Fans wissen, ist der Golden State seit 47 Jahren die Heimat des Bluesman, seit jenem schicksalhaften Tag im Jahr 1974, als er seine Band in New Jersey verließ, sein Hab und Gut in einen Volkswagen Käfer packte und auf der Suche nach Glück und Ruhm von Küste zu Küste fuhr.

Mit der Zeit fand Trout beides und schloss sich ’85 John Mayalls legendärer Bluesbreakers-Besetzung an, bevor er ab ’89 eine gefeierte Solokarriere startete. Davor jedoch folgten chaotische, selbstzerstörerische Jahre als jobbender Lead-Gitarrist, sei es für verehrte, aber schwierige Blues-Pioniere wie John Lee Hooker und Big Mama Thornton, oder in den 80er Jahren in einer von den Hell’s Angels kontrollierten Canned Heat-Formation.

Trouts gut dokumentierte Exzesse in dieser Ära waren düsterer als die eines jungen Rockstars, der ausrastet. Er erklärt, dass das alles auf seine schwierige Kindheit in New Jersey zurückgeht, wo ein instabiler Stiefvater – selbst Opfer schockierender Grausamkeiten als Kriegsgefangener – eine furchterregende Präsenz war. Als „Ride“ Gestalt annahm, konnten solche Erinnerungen nicht umhin, die Musik zu beeinflussen. „Dieses Album ist offensichtlich das, was ich geistig und emotional durchgemacht habe“, meint er. „Alles, was ich tat, war, es auszudrücken. Ich habe viel Zeit damit verbracht, zu weinen, weil ich mich in meinem emotionalen Kern vergraben habe. Ich möchte, dass meine Songs eine Art Wahrheit enthalten.“

Im Mai versammelte sich die Trout-Band in den Kingsize Soundlabs, wo Corne eine Studiobesetzung zusammenstellte, die aus dem langjährigen Schlagzeuger Michael Leasure, dem regulären Keyboarder Teddy ‚Zig Zag‘ Andreadis und dem neuen Bassisten Jamie Hunting (der Johnny Griparic vertrat, der Krank in Schweden zurück bleiben musste) bestand. „Keine Starbesuche“, nickt Trout. „Nur ich und meine Band. Der einzige Gast war mein Tourmanager Anthony Grisham, der auf ‚Leave It All Behind‘ Rhythmusgitarre spielt. Der Grund dafür ist, dass ich wegen meines gebrochenen kleinen Fingers alles mit drei Fingern machen muss. Und um einen Chuck Berry-Rhythmus zu spielen, brauchst du deinen kleinen Finger.“

In den vergangenen Jahren waren die Kingsize-Studios Schauplatz für die Alben „Blues For The Modern Daze“ (2012) und „Luther’s Blues“ (2013) gewesen. Aber von dem knirschenden Riff und der Güterzug-Harfe, die die Lunte des Openers ‚Ghosts‘ entzünden, ist klar, dass „Ride“ mit nichts anderem in Trouts Katalog vergleichbar ist. „Dieser Song wurde eigentlich als Gedicht geschrieben“, erklärt er. „Er beginnt mit dem Text: ‚Manchmal höre ich ein vertrautes Lied und es bringt Erinnerungen zurück‘. Das ist die Wahrheit. Ich fahre in meinem Auto, ein Lied kommt im Radio und ich muss anhalten und eine Weile schluchzen. ‚Ghosts‘ fasst dieses Album zusammen, verstehst du?“

Einige der Erinnerungen, die Trout auf „Ride“ verarbeitet, liegen lange zurück, sind aber ewig ergreifend. Der Titelsong ist ein weiterer Song, der als Gedicht begann und von der Lokomotive erzählt, die jede Nacht an seinem Elternhaus vorbeiratterte und ihn dazu verleitete, in die Freiheit zu springen. „Der Song handelt davon, wie es sich anfühlte, im Bett zu liegen und davon zu träumen, mit diesem Zug zu entkommen.

Das stürmische ‚Hey Mama‘ ist von dieser Zeit inspiriert, wobei Trout darüber debattiert, ob sein Trauma hätte verhindert werden können. „Ich bin nicht sauer auf meine Mutter und ich liebe die Erinnerung an sie“, sagt er, „aber meine Frau sagt: ‚Deine Mutter hätte wahrscheinlich mehr tun können, um dich vor deinem Stiefvater zu schützen‘. Ja, vielleicht hätte sie das tun können. Aber rückblickend ist es leicht, das zu sagen“.

Andere Songs sind aktueller und roher, wie z. B. das langsam brennende ‚Follow You Back Home‘, das Trouts Qualen während einer schwierigen Ehephase zum Ausdruck bringt. „Ich wohnte in einem Hotel am Ende der Straße, während meine Frau und meine Familie fünf Straßen weiter wohnten. Es war wirklich hart, und mit diesem Song versetze ich mich zurück in dieses Hotelzimmer. Der Text ist so tiefgründig, wie ich nur sein kann, und die Gitarre ist so emotional, wie ich nur spielen kann. Das ist übrigens das erste Mal, dass ich eine echte Streichergruppe eingesetzt habe.“

Dennoch sind Trouts Überlegungen nicht immer negativ. Das leicht Hendrix-artige und stimmlich von Chet Baker beeinflusste Schlussstück ‚Destiny‘ erzählt ungeschminkt von der ersten Begegnung des Gitarristen mit seiner Frau Marie bei einem dänischen Bluesfestival im Jahr 1990. In ‚The Fertile Soil‘, das mit einem Country-Rock-Solo geschmückt ist, das in Trouts Katalog fast einzigartig ist, wird die Band aus der neunten Klasse erwähnt, die den jungen Gitarristen trotz seines noch jungen Könnens mitspielen ließ. „Ich habe über diese frühen Tage in Jersey nachgedacht und über meine lieben Freunde, die jetzt nicht mehr da sind. Dieser Song ist eine Metapher. Damals, als wir alle fünfzehn waren, lag alles vor uns, und unser Leben war der fruchtbare Boden.“

Andere Stücke auf der Tracklist von „Ride“ sind eine Chronik des Hier und Jetzt. So zum Beispiel das mitreißende ‚High Is Low‘, dessen Text – der jüngste Songwriting-Beitrag von Marie – ein Zeitalter aufspießt, in dem „die Lügen in den sozialen Medien überhand nehmen und der Griff nach der Realität immer weiter abnimmt“. Während der spröde Blues von ‚So Many Sad Goodbyes‘ nach einem Nachrichtenbericht entstand, in dem die düstere Zahl von 400.000 US-Covid-Toten verkündet wurde, mahnt Trout in ‚Waiting For The Dawn‘ und ‚Better Days Ahead‘ uns – und sich selbst -, stark zu bleiben.

„Ich habe mir kürzlich ‚Better Days Ahead‘ noch einmal angehört“, sagt er, „und mir wurde klar, dass ich diese Worte eigentlich an mich selbst geschrieben habe. Es gab Zeiten während dieser Pandemie, in denen ich in ziemlich tiefe Depressionen versunken bin und mich gefragt habe, ob das Leben einen Sinn hat. Mit diesem Lied versuche ich, mich selbst davon zu überzeugen, dass ich das durchstehen kann.“

Und doch gibt es immer Licht. Selbst wenn Trout in dem gleichnamigen, frühlingshaften Funk-Blues sagt: „Ich mache mir zu viele Sorgen“ – über die Politik, die Zukunft, seine Gesundheit – gleicht er jede existenzielle Angst mit einem Groove aus, der zum Tanzen auffordert. „Ich habe den Originaltext etwas aufgepeppt, mit der Zeile, dass ich mir Sorgen um meine Leber mache. Aber es ist wahr: Manche Leute bekommen eine Lebertransplantation und sie halten zwei Jahre durch. Gregg Allman bekam eine Lebertransplantation, er hielt nur drei Jahre durch. Und bei mir sind es schon sieben Jahre. Ich frage mich also, wie lange ich noch hier bin.“

In einer Zeit, in der Auflockerungen immer seltener werden, ist ‚Leave It All Behind‘ ein wahres Feuerwerk an Eskapismus. „Der Song heißt einfach nur: ‚Lass uns von hier verschwinden, Baby'“, lacht Trout. „Es hat wirklich Spaß gemacht, ihn zu schreiben. Ich wollte einfach einen alten 50er-Jahre-Song schreiben. Es ist ein weiterer ‚let’s escape‘-Song, fast das gleiche Thema wie der Titeltrack. Ich denke, dass man ein paar dieser Themen auf diesem Album wiederfindet. Ich will weg von all dem, ich will bei all dem Scheiß, den wir durchmachen, etwas Vernunft und Seelenfrieden finden.“

Inzwischen weiß Trout, dass niemand sein altes Ich jemals wirklich hinter sich lassen kann. Aber mit „Ride“ als emotionalem Ventil – sowohl für seinen Schöpfer als auch für seine treuen Hörer – kann sich der erfahrene Künstler vielleicht mit seiner Vergangenheit versöhnen, seine Zukunft akzeptieren und in der Gegenwart leben, während sie sich entfaltet. „Ich denke, man kann den Albumtitel auf verschiedene Weise interpretieren“, sagt er abschließend. „Ich meine, dieses Album ist definitiv ein musikalischer Ritt und ich habe sicherlich versucht, eine Menge an Themen abzudecken. Aber eigentlich ist das Leben auch eine Art Fahrt, nicht wahr? Und ich möchte mein Leben in vollen Zügen genießen.“

Tracks
1 Ghosts
2 Ride
3 Follow you back home
4 So many sad goodbyes
5 High is low
6 Waiting for the dawn
7 Better days ahead
8 Fertile soil
9 I worry too much
10 Leave it all behind
11 Hey mama
12 Destiny

Walter Trout „Ride“
Provogue Records