Vieux Farka Toure „Les Racines“

In Mali gibt es ein bekanntes Sprichwort, das besagt, dass der Nachname des Lebens Veränderung bedeutet. Eine Lebensweisheit, die Vieux Farka Touré während seiner gesamten Karriere und durch eine Reihe von abenteuerlichen grenzüberschreitenden Erfahrungen und Kooperationen hindurch stets befolgt hat. Doch es gibt noch ein anderes, universelleres Sprichwort, das besagt: ‚Um zu wissen, wohin man geht, muss man wissen, woher man kommt‘. Und eben jenes dem innewohnenden und für den Menschen grundlegendes Bedürfnis, sich seiner Herkunft bewusst zu werden, steht im Mittelpunkt von „Les Racines“.

„Les Racines“ bedeutet übersetzt „die Wurzeln“ und steht für eine tiefe Verbundenheit mit der Songhai-Musik aus Nord-Mali, die als „Desert Blues“ bekannt und durch seinen Vater und dessen World Circuit-Veröffentlichungen bereits Jahrzehnte zuvor berühmt geworden ist. Und Vieux’ Wurzeln reichen tiefer als tief. Der Sohn des verstorbenen Ali Farka Touré, der als der beste Gitarrist gilt, den Afrika je hervorgebracht hat, verbrachte zwei Jahre mit der Produktion von „Les Racines“ – von der ursprünglichen Idee in dessen Kopf bis zur Entstehung brauchte es sogar noch mehr Zeit. „Der Wunsch, ein traditionelleres Album zu machen, reifte schon seit langem in mir. Es ist mir und den Menschen in Mali wichtig, dass wir mit unseren Wurzeln und unserer Geschichte verbunden bleiben“, erklärt Vieux. Der durch den Ausbruch des Coronavirus verursachte Lockdown hinderte ihn zwar daran, wie geplant auf Tournee zu gehen, ermöglichte es ihm jedoch auch gleichzeitig, die so gewonnene Zeit zu nutzen, um eben dieses wohl tiefgründigste Statement seiner bisherigen Karriere zu schaffen.

„Les Racines“ ist bereits Vieux‘ sechstes Soloalbum, seit er im Jahr 2006 mit seiner Karriere startete. Eine Karriere, die unter anderem eine Kollaboration mit Dave Matthews und dem Jazzgitarristen John Scofield beinhaltete. Eine Karriere, die ein Album mit der amerikanischen Singer-/ Songwriterin Julia Easterlin und zwei Alben mit dem israelischen Künstler Idan Raichel in Form der „The Touré-Raichel Collective“ hervorbrachte. „Am Anfang meiner Karriere fragten die Leute, warum ich nicht einfach meinem Vater folgte. Aber es war essentiell wichtig für mich, meine eigene Identität zu finden“, erklärt Vieux. „Heute wissen die Leute, wozu ich fähig bin, und das ermöglicht es mir, mit Stolz und – so hoffe ich zumindest – auch mit einer gewissen Autorität zu diesen Wurzeln zurückkehren.“

Die zeitlosen Grooves des Albums, das in Vieux‘ Heimstudio (das zu Ehren seines Vaters den Namen ‚Studio Ali Farka Touré‘ trägt) in Bamako aufgenommen wurde, sind stark von der traditionellen Musik Westafrikas geprägt. Das Feuer von Vieux‘ Gitarrenspiel jedoch und die Dringlichkeit der Botschaften in seinen Songs verleihen dem Album eine ganz und gar zeitgenössische Relevanz. „Wir sind nichts, wenn wir den Respekt vor der Vergangenheit verlieren“, sagt Vieux. „Aber wir können die Kraft unserer Traditionen durchaus auch mit dem Modernen vereinen.“

In gewisser Weise ist „Les Racines“ die liebevolle Hommage eines Sohnes an den 2006 verstorbenen Ali Farka Touré, dessen Name im Schlusstrack des Albums, „Ndjehene Direne“, auch genannt wird. Und doch ist es so viel mehr als das, denn „Les Racines“ macht Vieux zum rechtmäßigen Erben des großen Mannes und gleichzeitig zu einem bedeutenden Künstler in eigener Sache. „Es ist schwierig, das Kind von jemandem zu sein, der es bis auf den Gipfel des Berges geschafft hat. Der Name folgt dir, was auch immer du tust. Und das bedeutet, dass es umso schwieriger ist, sich zu etablieren“, erklärt er. „Das Album ist eine Hommage an meinen Vater, aber vor allem an alles, was er repräsentiert und wofür er stand.“

Vieux wurde 1981 in Niafunke, Mali, einer staubigen Stadt am Niger, etwa 100 Meilen südlich von Timbuktu, geboren und von seinem Vater dazu angehalten, nicht in seine Fußstapfen zu treten. Glücklicherweise ignorierte er den väterlichen Rat und begann mit dem Gitarrespielen, was er heimlich tat, sobald sein Vater außer Reichweite war. Und auch wenn er ein Autodidakt gewesen ist, so lässt es sich nicht von der Hand weisen, dass Vieux die Musik in seinem Blut und DNA hat. Eric Herman, der heute sein Manager ist und „Les Racines“ gemeinsam mit Vieux produziert hat, erinnert sich, wie er ihn 2003 im Hause Touré zum ersten Mal hat spielen hören. Überzeugt davon, dass es Ali sein müsste, verschlug es ihm den Atem als er den Raum betrat und feststellte, dass es sich um Vieux handelte. Zu diesem frühen Zeitpunkt klang er bereits wie ein Meister. Das im Jahr 2006 veröffentlichte selbstbetiteltes Debütalbum enthält einen Gastauftritt und damit große Anerkennung seines Vaters – es waren die letzten Aufnahmen vor dessen Tod. Es folgten die Alben „Fondo“ (2009), „The Secret“ (2011), „Mon Pays“ (2013) und „Samba“ (2017), mit denen er die Grenzen traditioneller westafrikanischer Musik in neue und unerforschte Gebiete ausdehnte und sich im Laufe der Jahre den Spitznamen „der Hendrix der Sahara“ verdiente. Durch sein unermüdliches Touren avancierte Vieux zu einem gern gesehenen Gast bei renommierten Veranstaltungen und Festivals auf der ganzen Welt – trat so unter anderem bereits an der Seite von Shakira oder auch Alicia Keys wie etwa bei der Eröffnungsfeier der FIFA Fußball-Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika auf.

Passenderweise schließt sich mit der Veröffentlichung von „Les Racines“ ein Kreis, denn es ist Vieux‘ erstes Album bei World Circuit und damit dem Label, bei dem Ali Farka Touré von 1988 bis zu seinem Tod unter Vertrag stand. Es war, wie er zugibt, ein „lang gehegter Traum“, bei demselben Label wie sein Vater zu sein, dessen World Circuit-Recordings mit insgesamt drei Grammys ausgezeichnet wurden. „Les Racines“ wurde von World Circuit-Veteran Jerry Boys gemischt, der auch schon bei vielen Alben von Ali Hand angelegt hatte und dort im kreativen Prozess involviert war.

Zur illustren Gruppe der Musiker, die auf Vieux‘ neuem Album traditionelle Instrumente spielen, gehören Madou Traore an der Flöte, Kandia Fa an der Ngoni, Souleymane Kane an der Kalebasse und Toumani Diabatés jüngerer Bruder Madou Sidiki Diabaté, der sowohl auf dem Titeltrack als auch auf „Lahidou“ Kora spielt. Weitere Gäste sind Cheick Tidiane Seck an den Keyboards und Amadou Bagayoko von Amadou & Mariam an der Gitarre, zu hören bei den Songs „L’Âme“ und „Gabou Ni Tie“.

Die zehn Songs, allesamt Eigenkompositionen, beschäftigen sich mit einer ganzen Reihe von Themen, sowohl traditionelle wie auch aktuelle. „In Mali sind viele Menschen Analphabeten, und die Musik ist das wichtigste Mittel, um Informationen und Wissen weiterzugeben“, erklärt Vieux. „Mein Vater hat für den Frieden gekämpft, und als Künstler haben wir die Pflicht, über die Probleme unseres Landes aufzuklären, die Menschen zusammenzubringen und sie auf diese Weise zur Vernunft zu bringen.“

Songs wie „Be Together“ und „Tinnondirene“ sind mitfühlende Aufrufe zu Verständnis und Einigkeit. Andere wie beispielsweise „Lahidou“, das mit einer der schönsten Melodien des Albums aufwartet, behandeln traditionelle Werte wie Treue und Loyalität. In „Gabou Ni Tie“ – einem Track, der mit verschlungenen Gitarrenlinien, einem schleppenden Rhythmus und dem gefühlvollen Call-and-Response-Gesang daherkommt – warnt Vieux eindringlich vor übler Nachrede, Klatsch und das unbedachte Verbreiten von Gerüchten. Der hypnotische Groove von „Ngala Kaourene“ im klassischen Wüstenblues-Stil dürfte insbesondere die Fans von Bands wie Tinariwen ansprechen. „Wir verwenden etwas andere Rhythmen, aber Tuareg- und Songhai-Musik sind eng miteinander verbunden, in etwa wie Cousins“, erklärt Vieux.

Natürlich spielt auch die Familie bei Vieux‘ eine große Rolle und spiegelt sich in seiner Musik wider. „Adou“ beispielsweise wurde nach einem seiner vier Kinder benannt und erhielt seinen Titel, weil Vieux mit den Aufnahmen exakt am Geburtstag seines Sohnes begonnen hatte. „Flany Konare“ wiederum – ein Song, der von markanten Harmonien und klingenden Gitarren geprägt ist – ist einer sehr geliebten Tante gewidmet.

„Die Rückkehr zu den Wurzeln dieser Musik ist eine gänzlich neue Erfahrung für mich – ich habe noch nie so lange und so hart an einem Album gearbeitet“, reflektiert Vieux. „Ich wusste jedoch instinktiv, dass es tiefgründig, beständig und kraftvoll zugleich sein musste, und deshalb habe ich mir viel Zeit genommen, um darüber nachzudenken, wie ich es wohl schaffen könnte, all das miteinander zu verbinden.“ Das Ergebnis ist ein Album, auf das Ali Farka Touré mit Sicherheit stolz wäre – vor allem darauf, dass die Traditionen, für die er einst eintrat, auch heute noch mit so viel neuem Elan und Vitalität weiterleben.

Tracks
1 Gabou Ni Tie
2 Ngala Kaourene
3 Les Racines
4 Be Together
5 Tinnondirene
6 Adou
7 L’Âme
8 Flany Konare
9 Lahidou
10 Ndjehene Direne

Vieux Farka Toure „Les Racines“
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